Seite - 110 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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in einer der gekürzten französischen Ausgaben zu lesen. Es fehlt anscheinend
nichts darin: der Film der Geschehnisse rollt geschwinder ab, die Figuren
erscheinen sogar agiler, geschlossener, leidenschaftlicher. Aber doch, sie sind
irgendwo verarmt, ihrer Seele fehlt jener wunderbare irisierende Glanz, ihrer
Atmosphäre die funkelnde Elektrizität, jene Schwüle der Spannung, die erst
die Entladung so furchtbar und so wohltätig macht. Irgend etwas ist zerstört,
das nicht wieder zu ersetzen ist, ein Zauberkreis gebrochen. Und gerade aus
diesen Versuchen von Kürzungen und Dramatisierung erkennt man den Sinn
der Breite bei Dostojewski, die Zweckhaftigkeit seiner scheinbaren
Weitschweifigkeit. Denn die kleinen, flüchtigen, gelegentlichen Andeutungen,
die ganz zufällig und überflüssig scheinen, sie haben Erwiderung hundert und
hundert Seiten später. Unter der Oberfläche der Erzählung laufen solche
Leitungen verborgener Kontakte, die Meldungen weitertragen,
geheimnisvolle Reflexe tauschen. Es gibt bei ihm seelische Chiffrierungen,
ganz winzige physische und psychische Zeichen, deren Sinn erst beim
zweiten, beim dritten Lesen offenbar wird. Kein Epiker hat ein gleichsam so
durchnervtes System des Erzählens, ein so unterirdisches Gewirr der
Begebenheit unter dem Knochenwerk des Geschehnisses, unter der Haut des
Dialogs. Und doch, System kann man es kaum nennen: nur mit der
scheinbaren Willkürlichkeit und doch geheimnisvollen Ordnung des
Menschen selbst läßt sich dieser psychologische Prozeß vergleichen.
Während die anderen epischen Künstler, insbesondere Goethe, mehr die
Natur als den Menschen nachzuahmen scheinen und das Geschehnis
organisch wie eine Pflanze, bildhaft wie eine Landschaft genießen lassen,
erlebt man einen Roman Dostojewskis wie die Begegnung mit einem
sonderbar tiefen und leidenschaftlichen Menschen. Dostojewskis Kunstwerk
ist urirdisch bei aller Ewigkeit, ein zweispältiges, wissendes, erregt
leidenschaftliches Nervenwesen, immer gegorenes Fleisch und Hirn, nie
ehernes Metall, reines ausgeglühtes Element. Es ist unberechenbar und
unergründbar, wie die Seele es in den Grenzen ihrer Körperlichkeit ist, und
unvergleichbar innerhalb der Formen der Kunst.
Unvergleichbar: Bewunderung seiner Kunst, seiner seelischen
Meisterschaft, sie ist jenseitig allen Maßes, und je tiefer man sich in sein
Werk versenkt, desto unwahrscheinlicher und gewaltiger scheint ihre Größe.
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß diese Romane an sich alle vollendete
Kunstwerke wären, ja sie sind es viel weniger als manche ärmere Werke, die
engere Kreise ziehen und sich mit Schlichterem bescheiden. Der Maßlose
kann das Ewige erreichen, aber nicht nachbilden. Viel ihrer unerhörten
Architektonik ist von Leidenschaft verschwemmt, manche heroische
Konzeption von Ungeduld zerstört. Aber diese Ungeduld Dostojewskis, sie
führt von der Tragödie seiner Kunst in die seines Lebens zurück. Denn dies
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131