Seite - 117 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Haß, ihr Haß eine verborgene Liebe. Gegensatz befruchtet den Gegensatz. Es
gibt bei ihm Lüstlinge aus Gier nach dem Leiden und wieder Selbstquäler aus
Gier nach der Lust, in rasendem Kreislauf dreht sich der Wirbel ihres
Wollens. In der Begierde genießen sie schon den Genuß, im Genuß schon den
Ekel, in der Tat genießen sie die Reue und in der Reue wieder, rückfühlend,
die Tat. Es gibt gleichsam ein Oben und Unten, eine Vervielfachung der
Empfindungen bei ihnen. Die Taten ihrer Hände sind nicht die ihrer Herzen,
die Sprache ihrer Herzen wieder nicht die ihrer Lippen, jedes einzelne Gefühl
ist so Zerspaltenheit, Vielfalt und Vieldeutigkeit. Nie wird es gelingen, bei
Dostojewski eine Einheit des Gefühls zu fassen, nie einen Menschen im Netz
eines Sprachbegriffes zu fangen. Man nenne Fedor Karamasoff einen
Wüstling: der Begriff scheint ihn zu erschöpfen, aber doch, ist nicht
Swidrigailoff auch einer und jener namenlose Student in den „Werdenden“,
und doch: welche Welt zwischen ihnen und ihren Gefühlen! Bei Swidrigailoff
ist die Wollust eine kalte, seelenlose Ausschweifung, er ist der berechnende
Taktiker seiner Unzucht. Karamasoffs Wollust wieder ist Lebenslust,
Ausschweifung bis zur Selbstbeschmutzung betrieben, ein tiefer Trieb, sich in
das Niederste des Lebens noch einzumengen, nur weil es Leben ist, sein
Unterstes, seinen Absud noch zu genießen aus einer Ekstase der Vitalität.
Jener ist Wollüstling aus Mangel, der andere aus Exzeß des Gefühls, was bei
diesem kranke Erregung des Geistes, ist bei jenem eine chronische
Entzündung. Swidrigailoff wieder ist der Mittelmensch der Wollust, der
„Lasterchen“ hat statt der Laster, ein kleines schmutziges Tierchen, ein Insekt
der Sinne, und jener, der namenlose Student der „Werdenden“, wiederum ist
Perversion geistiger Bosheit ins Sexuelle. Man sieht, Welten des Gefühls
stehen zwischen diesen Menschen, die sonst ein einziger Begriff
zusammenfaßt, und so wie hier die Wollust differenziert ist und aufgelöst in
ihre geheimnisvollen Verwurzlungen und Komponenten, so ist bei
Dostojewski jedes Gefühl, jeder Trieb immer zurückgeführt in die letzte
Tiefe, in den Ursprung aller Kraftströmung, in jenen letzten Gegensatz
zwischen Ich und Welt, Behauptung und Hingabe, Stolz und Demut,
Verschwendung und Sparsamkeit, Vereinzelung und Gemeinschaft,
zentripetale und zentrifugale Kraft, Selbststeigerung oder Selbstvernichtung,
Ich oder Gott. Man mag die Gegensatzpaare nennen, wie es der Augenblick
fordert, immer sind es letzte, sind es Urgefühle jener Welt zwischen Geist und
Fleisch. Nie haben wir vor ihm von dieser wimmelnden Vielfalt des Gefühls,
von unserer seelischen Gemengtheit so viel gewußt.
Am überraschendsten aber wird diese Auflösung des Gefühls bei
Dostojewski in der Liebe. Es ist die Tat seiner Taten, daß er den Roman, ja die
ganze Literatur, die seit Hunderten von Jahren, seit der Antike, immer nur in
diesem Zentralgefühl zwischen Mann und Weib, als in den Urquell alles Seins
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131