Seite - 118 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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gemündet hatte, noch tiefer hinab, noch höher hinauf, in letzte Erkenntnisse
geführt hat. Liebe, anderen Dichtern der Endzweck des Lebens, das
Erzählungsziel des Kunstwerkes, ihm ist sie nicht Urelement, sondern nur
Stufe des Lebens. Für die anderen dröhnt die glorreiche Sekunde der
Versöhnung, der Ausgleich aller Widerstreite im Augenblicke, wo Seele und
Sinne, Geschlecht und Geschlecht sich restlos in himmlische Gefühle lösen.
Im letzten Grunde ist bei ihnen, den anderen Dichtern, der Lebenskonflikt
lächerlich primitiv im Vergleich zu Dostojewski. Liebe rührt den Menschen
an, ein Zauberstab aus göttlicher Wolke, Geheimnis, die große Magie,
unerklärbar, unerläuterbar, letztes Mysterium des Lebens. Und der Liebende
liebt: er ist glücklich, erlangt er die Begehrte, er ist unglücklich, erlangt er sie
nicht. Wiedergeliebt sein ist der Himmel der Menschheit bei allen Dichtern.
Aber Dostojewskis Himmel sind höher. Umarmung ist bei ihm noch nicht
Vereinigung, Harmonie noch nicht die Einheit. Für ihn ist Liebe nicht ein
Glückszustand, ein Ausgleich, sondern erhobener Streit, intensiveres
Schmerzen der ewigen Wunde und darum ein Leidensmoment, ein stärkeres
Am-Leben-leiden als in den gemeinen Augenblicken. Wenn Dostojewskis
Menschen einander lieben, so ruhen sie nicht. Im Gegenteil, nie sind seine
Menschen mehr durchschüttelt von allem Widerstreit ihres Wesens als im
Augenblick, da Liebe sich von Liebe erwidert fühlt, denn sie lassen sich nicht
versinken in ihrem Überschwang, sondern suchen ihn zu übersteigern. Sie
machen, echte Kinder seiner Entzweiung, nicht halt in dieser letzten Sekunde.
Sie verachten die sanfte Gleichung des Augenblicks (den alle anderen als den
schönsten ersehnen), daß Geliebter und Geliebte sich gleich stark lieben und
geliebt werden, weil dies Harmonie wäre, ein Ende, eine Grenze, und sie
leben nur für das Grenzenlose. Dostojewskis Menschen wollen nicht ebenso
lieben wie sie geliebt werden: sie wollen immer nur lieben und wollen das
Opfer sein, derjenige, der mehr gibt, derjenige, der weniger empfängt, und sie
steigern einander in wahnsinnigen Lizitationen des Gefühls, bis es gleichsam
ein Keuchen, ein Stöhnen, ein Kampf, eine Qual wird, was als sanftes Spiel
begann. In rasender Verwandlung sind sie dann glücklich, wenn sie
zurückgestoßen, wenn sie verhöhnt, wenn sie verachtet werden, denn dann
sind sie es ja, die geben, unendlich geben und nichts dafür verlangen, und
darum ist bei ihm, dem Meister der Gegensätze, der Haß immer so ähnlich der
Liebe und die Liebe immer so ähnlich dem Haß. Aber auch in den kurzen
Intervallen, da sie einander gleichsam konzentriert lieben, ist die Einheit des
Gefühls noch einmal gesprengt, denn nie können Dostojewskis Menschen
gleichzeitig mit den geschlossenen Kräften ihrer Sinne und Seele einander
lieben. Sie lieben mit der einen oder mit der anderen, nie ist Fleisch und Geist
bei ihnen in Harmonie. Man sehe nur auf seine Frauen: alle sind sie Kundrys,
gleichzeitig in zwei Welten des Gefühles lebend, mit ihrer Seele dem heiligen
Gral dienend und gleichzeitig wollüstig ihren Leib verbrennend in den
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131