Seite - 122 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Bild der Seite - 122 -
Text der Seite - 122 -
im „small talk“ des englischen Romans, sie reden von der Leibeigenschaft,
von Frauen, von der Sixtinischen Madonna, von Europa, aber die unendliche
Schwerkraft der Gottesfrage hängt sich an jedes Thema und zieht es
schließlich magisch in seine Unergründlichkeit. Jede Diskussion bei
Dostojewski endet beim russischen Gedanken oder beim Gottesgedanken –
und wir sehen, daß diese beiden Ideen für ihn eine Identität sind. Russische
Menschen, seine Menschen, können so wie in ihren Gefühlen auch in ihren
Gedanken nicht haltmachen, sie müssen unvermeidlich vom Praktischen und
Tatsächlichen in das Abstrakte, vom Endlichen ins Unendliche, immer
ansEnde. Und aller Fragen Ende ist die Gottesfrage. Sie ist der innere Wirbel,
der ihre Ideen rettungslos in sich reißt, der schwärende Splitter in ihrem
Fleische, der ihre Seelen mit Fieber erfüllt.
Mit Fieber. Denn Gott – Dostojewskis Gott – ist das Prinzip aller Unruhe,
weil er, Urvater der Kontraste, zugleich das Ja und das Nein ist. Nicht wie auf
den Bildern der alten Meister, in den Schriften der Mystiker ist er die sanfte
Schwebe über den Wolken, selig-beschauliches Erhobensein – Dostojewskis
Gott ist der springende Funke zwischen den elektrischen Polen der
Urkontraste, er ist kein Wesen, sondern ein Zustand, ein Spannungszustand,
ein Verbrennungsprozeß des Gefühls, er ist Feuer, ist die Flamme, die alle
Menschen erhitzt und überkochen macht in Ekstase. Er ist die Geißel, die sie
aus sich, aus ihrem warmen ruhigen Leib, in die Unendlichkeit treibt, der sie
verlockt in alle Exzesse des Wortes und der Tat, sie hinstürzt in den
brennenden Dornbusch ihrer Laster. Er ist, wie seine Menschen, wie der
Mensch, der ihn schuf, ein ungenügsamer Gott, den keine Anstrengung
bewältigt, kein Gedanke erschöpft, keine Hingabe befriedigt. Er ist der ewig
Unerreichbare, ist aller Qualen Qual, und mitten aus Dostojewskis Brust
bricht darum Kirillows Schrei: „Gott hat mich mein ganzes Leben lang
gequält.“
Das ist Dostojewskis Geheimnis: er braucht Gott und findet ihn doch nicht.
Manchmal meint er ihm schon zu gehören, und schon umfaßt ihn seine
Ekstase, da klirrt sein Verneinungsbedürfnis ihn wieder zur Erde. Keiner hat
das Gottesbedürfnis stärker erkannt. „Gott ist mir deshalb notwendig,“ sagt er
einmal, „weil er das einzige Wesen ist, das man immer lieben kann“, und ein
anderes Mal: „Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Angst für
den Menschen, als etwas zu finden, vor dem er sich beugen kann.“ Sechzig
Jahre leidet er an dieser Gottesqual und liebt Gott wie jedes seiner Leiden,
liebt ihn mehr als alles, weil er das ewigste aller Leiden ist und Leidensliebe
den tiefsten Gedanken seines Sein bedeutet. Sechzig Jahre kämpft er sich zu
ihm und lechzt „wie trockenes Gras“ nach dem Glauben. Das ewig
Zersprengte will eine Einheit, der ewig Gejagte eine Rast, der ewig
Getriebene durch alle Stromschnellen der Leidenschaft, der sich
122
Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131