Seite - 123 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Zerströmende den Ausgang, die Ruhe, das Meer. So träumt er ihn als
Beruhigung und findet ihn doch nur als Feuer. Er möchte selbst ganz klein
werden, ganz wie die Dumpfen im Geiste, um in ihn eingehen zu können,
möchte glauben können im Köhlerglauben, wie die „zehn Pud dicke
Kaufmannsfrau“, möchte es aufgeben, der Wissendste, der Bewußte zu sein,
um der Gläubige zu werden, wie Verlaine fleht er: „Donnez-moi de la
simplicité.“ Das Gehirn verbrennen im Gefühl, hinströmen in die Gottesruhe,
tierhaft dumpf, das ist sein Traum. O, wie streckt er sich ihm entgegen, er tobt
brünstig, er schreit, er wirft die Harpunen der Logik aus, ihn zu fassen, legt
ihm die verwegensten Fuchsfallen der Beweise; wie ein Pfeil schießt seine
Leidenschaft auf, ihn zu treffen, ein Lechzen nach Gott ist seine Liebe, eine
„fast unanständige Leidenschaft“, ein Paroxysmus, ein Überschwang.
Ist er aber darum schon gläubig, weil er so fanatisch glauben will? War
Dostojewski, der beredteste Anwalt der Rechtgläubigkeit, der Pravoslavie
selbst ein Bekenner, ein poeta christianissimus? Sicherlich in Sekunden: da
zuckt sein Spasma ins Unendliche hinein, da krampft er sich ein in Gott, da
hält er die Harmonie, die irdisch versagte, in Händen, da ist er, der
Gekreuzigte seines Zwiespaltes, auferstanden in den alleinigen Himmeln.
Aber doch: irgend etwas bleibt auch dann noch wach in ihm und schmilzt
nicht hin im Seelenbrand. Während er schon ganz aufgelöst scheint, ganz
überirdische Trunkenheit, bleibt jener grausame Geist der Analyse
mißtrauisch auf der Lauer und mißt das Meer aus, in das er versinken will.
Der unerbittliche Doppelgänger wehrt sich gegen die Aufgabe der
Persönlichkeit. Auch im Gottesproblem klafft der unheilbare Zwiespalt, der in
jedem von uns eingeboren ist, aber den kein Irdischer bisher zu solcher
Spannweite des Abgrunds aufgerissen wie Dostojewski. Er ist der Gläubigste
aller und der äußerste Atheist in einer Seele, er hat in seinen Menschen die
polarsten Möglichkeiten beider Formen gleich überzeugend dargestellt (ohne
sich selbst zu überzeugen, ohne sich selbst zu entscheiden), die Demut, sich
hinzugeben, sich, ein Staubkorn, aufzulösen in Gott, und andererseits das
grandioseste Extrem, selber Gott zu werden: „Erkennen, daß ein Gott ist, und
gleichzeitig erkennen, daß man nicht zum Gott geworden ist, wäre ein
Unsinn, durch den man zum Selbstmord getrieben wird.“ Und sein Herz ist
bei beiden, beim Gottesknecht und beim Gottesleugner, bei Aljoscha und bei
Iwan Karamasoff. Er entscheidet sich nicht in dem unablässigen Konzil seiner
Werke, bleibt bei den Bekennern und den Häretikern. Seine Gläubigkeit ist
feuriger Wechselstrom zwischen dem Ja und Nein, den beiden Polen der Welt.
Auch vor Gott bleibt Dostojewski der große Ausgestoßene der Einheit.
So bleibt er Sisyphus, der ewige Wälzer des Steins zur Höhe der
Erkenntnis, der er immer wieder entrollt. Der ewig Bemühte zu Gott, den er
nie erreicht. Aber irre ich denn nicht: ist Dostojewski nicht den Menschen der
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131