Seite - 124 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Bild der Seite - 124 -
Text der Seite - 124 -
große Prediger des Glaubens? Geht nicht durch seine Werke der große
orgelnde Hymnus an Gott? Bezeugen nicht alle seine politischen, seine
literarischen Schriften einhellig diktatorisch, unzweifelhaft seine
Notwendigkeit, seine Existenz, dekretieren sie denn nicht die
Rechtgläubigkeit, verwerfen sie nicht den Atheismus als das äußerste
Verbrechen? Aber man verwechsle hier nicht Wille mit Wahrheit, nicht den
Glauben mit dem Postulat des Glaubens. Dostojewski, der Dichter der ewigen
Umkehrung, dieser fleischgewordene Kontrast, predigt den Glauben als
Notwendigkeit, predigt ihn um so inbrünstiger den anderen als – er selbst
nicht glaubt (im Sinne eines ständigen, sicheren, ruhenden, vertrauenden
Glaubens, der „geklärte Begeisterung“ als höchste Pflicht formuliert). Von
Sibirien schreibt er an eine Frau: „Ich will Ihnen von mir sagen, daß ich ein
Kind dieser Zeit bin, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels, und es ist
wahrscheinlich, ja, ich weiß es bestimmt, daß ich es bis an mein Lebensende
bleiben werde. Wie entsetzlich quälte mich und quält mich auch jetzt die
Sehnsucht nach dem Glauben, die um so stärker ist, je mehr ich
Gegenbeweise habe.“ Nie hat er es klarer gesagt: er hat Sehnsucht nach dem
Glauben aus Glaubenslosigkeit. Und hier ist eine jener erhabenen
Umwertungen Dostojewskis: eben weil er nicht glaubt und die Qual dieses
Unglaubens kennt, weil, nach seinem eigenen Worte, er die Qual immer nur
für sich liebt und Mitleid hat mit den andern – darum predigt er den andern
den Glauben an einen Gott, den er selbst nicht glaubt. Der Gottgequälte will
eine gottselige Menschheit, der schmerzlich Glaubenslose die glücklich
Gläubigen. An das Kreuz seines Unglaubens genagelt, predigt er dem Volke
die Orthodoxie, er vergewaltigt seine Erkenntnis, weil er weiß, daß sie
zerreißt und verbrennt, und predigt die Lüge, die Glück gibt, den strikten,
textlichen Bauernglauben. Er, der „kein Senfkorn Glauben hat“, der gegen
Gott revoltierte und, wie er selbst stolz sagte, „den Atheismus mit ähnlicher
Kraft ausgedrückt hat, wie niemand in Europa“, er verlangt die
Unterwürfigkeit unter das Popentum. Um die Menschen vor der Gottesqual zu
behüten, die er wie keiner im eigenen Fleische erlebt, verkündet er die
Gottesliebe. Denn er weiß: „Das Schwanken, die Unruhe des Glaubens – das
ist für einen gewissenhaften Menschen eine solche Qual, daß es besser ist,
sich zu erhängen.“ Er selbst ist ihr nicht ausgewichen, als Märtyrer hat er den
Zweifel auf sich genommen. Aber der Menschheit, der unendlich geliebten,
will er ihn ersparen, wie sein Großinquisitor will er der Menschheit die Qual
der Gewissensfreiheit sparen und sie einwiegen in den toten Rhythmus der
Autorität. So schafft er, statt hochmütig die Wahrheit seines Wissens zu
verkünden, die demütige Lüge eines Glaubens. Er verschiebt das religiöse
Problem ins Nationale, dem er den Fanatismus des göttlichen gibt. Und wie
sein getreuester Knecht antwortet er auf die Frage: „Glauben Sie an Gott?“ in
der aufrichtigsten Konfession seines Lebens: „Ich glaube an Rußland.“
124
Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131