Seite - 126 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Narren und Genarrten, Pazifismus – ein Altweibergeschwätz. Alle Ideen
Europas ein verblühter, verwelkter Blumenstrauß, gut genug, in die Jauche
geschmissen zu werden. Nur die russische Idee ist die einzig wahre, einzig
große, einzig richtige. Im Amoklauf stürmt der rasende Übertreiber weiter,
jeden Einwand mit dem Dolche niederstoßend: „Wir verstehen euch, aber ihr
versteht nicht uns“ – schon bricht jede Diskussion blutend zusammen. „Wir
Russen sind die Allverstehenden, ihr seid die Begrenzten“, dekretiert er.
Rußland allein ist richtig und alles in Rußland, der Zar und die Knute, der
Pope und der Bauer, die Troika und die Ikone, und um so richtiger, je mehr es
antieuropäisch, asiatisch, mongolisch, tatarisch, um so richtiger, als es
konservativ, rückständig, unfortschrittlich, ungeistig, byzantinisch ist. O, wie
tobt er sich hier aus, der große Übertreiber! „Seien wir Asiaten, seien wir
Sarmaten“, jauchzt er auf. „Weg von Petersburg, dem europäischen, zurück zu
Moskau, hinüber nach Sibirien, das neue Rußland ist das Dritte Reich.“
Diskussion darüber duldet dieser gotttrunkene mittelalterliche Mönch nicht.
Nieder die Vernunft!Rußland ist das Dogma, das widerspruchslos zu
bekennen ist. „Man versteht Rußland nicht mit der Vernunft, sondern mit dem
Glauben.“ Wer ihm nicht in die Knie stürzt, ist der Feind, der Antichrist:
Kreuzzug wider ihn! Hell schmettert er in die Fanfare des Krieges. Zerstampft
muß Österreich werden, der Halbmond von der Hagia Sofia Konstantinopels
gerissen, Deutschland gedemütigt, England besiegt – ein wahnwitziger
Imperialismus hüllt seinen Hochmut in mönchische Kutte und ruft: ‚Dieu le
veut.‘ Um des Gottesreiches willen die ganze Welt für Rußland.
Rußland also ist Christus, der neue Erlöser, und wir sind die Heiden. Nichts
errettet uns Verworfene aus dem Fegefeuer unserer Schuld: wir haben die
Erbsünde begangen, keine Russen zu sein. Unserer Welt ist kein Raum in
diesem neuen Dritten Reich: erst muß unsere europäische Welt untergehen im
russischen Weltreiche, im neuen Gottesreiche, dann erst kann sie erlöst
werden. Wörtlich sagt er: „Jeder Mensch muß vorerst Russe werden.“ Dann
erst beginnt die neue Welt. Rußland ist das Gottträgervolk: erst muß es noch
mit dem Schwerte die Erde erobern, dann erst wird es sein „letztes Wort“ der
Menschheit sagen. Und dieses letzte Wort heißt für Dostojewski: Versöhnung.
Für ihn besteht das russische Genie in der Fähigkeit, alles zu verstehen, alle
Gegensätze zu lösen. Der Russe ist der Allversteher und darum der
Nachgiebige im höchsten Sinn. Und sein Staat, der Zukunftsstaat, wird die
Kirche sein, die Form der brüderlichen Gemeinschaft, der Durchdringung
statt der Unterordnung. Und es klingt wie ein Prolog zu den Ereignissen
dieses Krieges (der in seinem Anbeginn so genährt war von seinen Ideen, wie
in seinem Ende von jenen Tolstois), wenn er sagt: „Wir werden die ersten
sein, die der Welt verkünden, daß wir nicht durch Unterdrückung der
Persönlichkeit und fremder Nationalitäten das eigene Gedeihen erreichen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131