Page - 50 - in Amerika
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Das Geländer war übrigens nicht lang, und bald wurde Karl wieder vom
geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des
Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an die Mauer, und nur die
ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sie
glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende
nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe
noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl schon, er gehe immerfort im
gleichen Kreisgang in der Runde, und hoffte schon, die offene Tür seines
Zimmers vielleicht wiederzufinden, aber weder sie noch das Geländer kehrte
wieder. Bis jetzt hatte sich Karl von lautem Rufen zurückgehalten, denn er
wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber
jetzt sah er ein, daß es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war, und
machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes »Hallo!«
zu schreien, als er in der Richtung, aus der er gekommen war, ein kleines, sich
näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges
abschätzen; das Haus war eine Festung, keine Villa. Karls Freude über dieses
rettende Licht war so groß, daß er alle Vorsicht vergaß und darauf zulief;
schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht
darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit
einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.
»Wer sind Sie?« fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht,
wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas
steif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der Brust in
seidenartige Ringel ausging. ›Es muß ein treuer Diener sein, dem man das
Tragen eines solchen Bartes erlaubt‹, dachte Karl und sah diesen Bart
unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu
fühlen, daß er selbst beobachtet wurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er
der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer
gehen wolle und es nicht finden könne.
»Ach so«, sagte der Diener, »wir haben das elektrische Licht noch nicht
eingeführt.«
»Ich weiß«, sagte Karl.
»Wollen Sie nicht Ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?« fragte der
Diener.
»Bitte«, sagte Karl und tat es.
»Es zieht hier so auf den Gängen,« sagte der Diener, »die Kerze löscht
leicht aus, darum habe ich eine Laterne.«
»Ja, eine Laterne ist viel praktischer«, sagte Karl.
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik