Page - 60 - in Amerika
Image of the Page - 60 -
Text of the Page - 60 -
auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir
geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine
Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu
einem so großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten.
Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von
Ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens einen
berühmten Lehrer für mich engagieren – Sie können sich denken, wie ich
mich darauf freue –, und dessen Spiel wird allerdings dafür stehen, mir
während der Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich
ehrlich sein soll, froh, daß es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann
noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben
Sie, daß ich mich verabschiede, schließlich ist es ja doch schon
Schlafenszeit.« Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei
gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die
Hand reichte: »In meiner Heimat pflegt man zu sagen: ›Schlafe wohl und
träume süß.‹«
»Warten Sie«, sagte sie, ohne die Hand anzunehmen, »vielleicht sollten Sie
doch spielen.« Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der das
Piano stand.
›Was ist denn?‹ dachte Karl. ›Lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch
ist.‹ Es klopfte an der Gangtüre, und der Diener, der die Türe nicht ganz zu
öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: »Verzeihen Sie, ich wurde
soeben abberufen und kann nicht mehr warten.«
»Gehen Sie nur«, sagte Karl, der sich nun getraute, den Weg ins
Speisezimmer allein zu finden. »Lassen Sie mir nur die Laterne vor der Türe.
Wie spät ist es übrigens?
»Bald dreiviertel zwölf«, sagte der Diener.
»Wie langsam die Zeit vergeht!« sagte Karl. Der Diener wollte schon die
Türe schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld
gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche – er trug jetzt
immer Münzengeld, nach amerikanischer Sitte lose klingelnd, in der
Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche – und reichte ihn dem
Diener mit den Worten: »Für Ihre guten Dienste.«
Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es
Karl einfiel, daß er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer
würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon
Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens
dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur
Verfügung stehen.
60
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik