Page - 61 - in Amerika
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»Ich bitte Sie also doch, ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten
Musik, daß man sich keine Gelegenheit, sie zu hören, entgehen lassen will.«
»Dann ist es aber höchste Zeit«, sagte Karl ohne weitere Überlegungen und
setzte sich gleich zum Klavier.
»Wollen Sie Noten haben?« fragte Klara.
»Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen«, antwortete
Karl und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das, wie Karl wohl wußte,
ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um, besonders für Fremde,
auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es in ärgstem Marschtempo
hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in
großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und
rührte sich nicht.
»Ganz schön«, sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Karl
nach diesem Spiel hätte schmeicheln können.
»Wie spät ist es?« fragte er.
»Dreiviertel zwölf.«
»Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit«, sagte er und dachte bei sich:
›Entweder – oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber
eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen.‹ Und er fing sein geliebtes
Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörens sich
nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur schwer hergab.
Er mußte ja tatsächlich bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst
zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehen, das,
über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden
konnte. »Ich kann ja nichts«, sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara
mit Tränen in den Augen an.
Da ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Händeklatschen. »Es hört noch
jemand zu!« rief Karl aufgerüttelt.
»Mack«, sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: »Karl
Roßmann, Karl Roßmann!«
Karl schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und
öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend
sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus
blauer Seide war die einzige, ein wenig märchenhafte Pracht des sonst
einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem
Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bettwäsche und Macks
Hemd waren so weiß, daß das über sie fallende Kerzenlicht in fast
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik