Page - 69 - in Amerika
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sich auf Karls Kosten zu belustigen. Ob ihm vielleicht auch dazu der Onkel
den Auftrag gegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen, wütenden
Bewegung faßte er den Kofferdeckel, der laut zuklappte.
Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst
streckte sich und gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast
der ganze Kofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet; wenn es Diebe waren,
brauchten sie nur heranzutreten und auszuwählen. Nicht nur um dieser
Möglichkeit vorzukommen, sondern um auch sonst gleich Klarheit zu
schaffen, ging Karl mit der Kerze in der Hand zu den Betten und erklärte, mit
welchem Rechte er hier sei. Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet
zu haben, denn noch viel zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn
bloß ohne jedes Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere
Arbeit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen aus den Gesichtern
vorgetrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen ums Kinn, ihr schon lange
nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf, und ihre
tiefliegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor Verschlafenheit mit
den Fingerknöcheln.
Karl wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte
deshalb: »Ich heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte, sagen Sie
mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre
Nationalität. Ich erkläre nur noch gleich, daß ich keinen Anspruch auf ein
Bett habe, da ich so spät gekommen bin und überhaupt nicht die Absicht
habe, zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid
stoßen, ich bin völlig arm und ohne Aussichten.«
Der Kleinere von beiden – es war jener, der die Stiefel anhatte – deutete
mit Armen, Beinen und Mienen an, daß ihn das alles gar nicht interessiere
und daß jetzt überhaupt keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich
nieder und schlief sofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich
auch wieder nieder, sagte aber noch vor dem Einschlafen mit lässig
ausgestreckter Hand: »Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße
Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe.«
Kaum hatte er das gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Karls Kerze
aus und fiel auf das Kissen zurück.
›Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt‹, sagte sich Karl und kehrte zum
Tisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut.
Unangenehm war bloß, daß der eine Irländer war. Karl wußte nicht mehr
genau, in welchem Buch er einmal zu Hause gelesen hatte, daß man sich in
Amerika vor den Irländern hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim
Onkel hätte er freilich die beste Gelegenheit gehabt, die Frage nach der
Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehen, hatte dies aber, weil er
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book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik