Page - 75 - in Amerika
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sehen. Die Brücke, die New York mit Brooklyn verbindet, hing zart über den
East River, und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien
ganz ohne Verkehr zu sein, und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte
Wasserband. Alles in beiden Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt.
Unter den Häusern gab es kaum einen Unterschied zwischen den großen und
den kleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich das
Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen als leichter
Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe verjagbar zu sein schien.
Selbst in den Hafen, den größten der Welt, war Ruhe eingekehrt, und nur hie
und da glaubte man, wohl beeinflußt von der Erinnerung an einen früheren
Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehen, das eine kurze Strecke sich
fortschob. Aber man konnte ihm auch nicht lange folgen, es entging den
Augen und war nicht mehr zu finden.
Aber Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten nach
rechts und links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze und
Gärten, die sie mit Namen benannten. Sie konnten es nicht begreifen, daß
Karl über zwei Monate in New York gewesen war und kaum etwas anderes
von der Stadt gesehen hatte als eine Straße. Und sie versprachen ihm, wenn
sie in Butterford genug verdient hätten, mit ihm nach New York zu gehen und
ihm alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene
Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson
begann im Anschluß daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das
Delamarche mit Händeklatschen begleitete und das Karl als eine
Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm hier mit einem
englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallen hatte. So
gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die
Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts
davon zu wissen.
Einmal fragte Karl, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er
Delamarches und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger vielleicht auf den
gleichen, vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dann
weitergingen, fragte Karl, wann sie frühestens mit genügendem Verdienst
nach New York zurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könne schon
ganz gut in einem Monat sein, denn in Butterford sei Arbeitermangel und die
Löhne seien hoch. Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsame Kasse
legen, damit zufällige Unterschiede im Verdienst unter ihnen als Kameraden
ausgeglichen würden. Die gemeinsame Kasse gefiel Karl nicht, obwohl er als
Lehrling natürlich weniger verdienen würde als ausgelernte Arbeiter.
Überdies erwähnte Robinson, daß sie natürlich, wenn in Butterford keine
Arbeit wäre, weiterwandern müßten, entweder um als Landarbeiter irgendwo
unterzukommen oder vielleicht nach Kalifornien in die Goldwäscherei zu
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book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik