Page - 85 - in Amerika
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aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir
haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns
geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt –
weil ihn dort im Hotel irgend jemand gelockt hat – verabschiedet er sich,
verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies
nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer, und weil er ein
grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu
beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen
kleinen Scherz gemacht haben.«
Karl, der seine Sachen packte, ohne sich umzuwenden: »Reden Sie nur so
weiter und erleichtern Sie mir das Weggehen. Ich weiß ganz gut, was
Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt, und keiner kann
mir vorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte.
Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach
Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich
sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson,
Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde,
so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in
Butterford in Aussicht zu stellen? Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts,
und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im geringsten, aber Sie
mißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu
demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen
Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern
beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk – damit nehmen
Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das
alles nicht eigentlich von Ihnen, Robinson. Gegen Ihren Charakter habe ich
nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.«
»Da sehen wir ja«, sagte Delamarche, indem er zu Karl trat und ihm einen
leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, »da sehen wir ja, wie
Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich
an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren
sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt
spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner
Schlaumeier, und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen
werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns
während des Tages abgeschaut haben. Du, Robinson, wir beneiden ihn –
meint er – um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford – von Kalifornien
gar nicht zu reden –, und wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben
und als Sie in Ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also, nur immer
Achtung aufs Maul!«
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book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik