Page - 92 - in Amerika
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sieht er aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein
Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natur sehr
bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo
anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus, und in fünf
Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich
Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind
ein kräftiger Junge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«
»Ich werde nächstens Monat sechzehn«, antwortete Karl.
»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin. »Also nur Mut!«
Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine
schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei
Glühbirnen sich sehr wohnlich zeigte.
»Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagte die Oberköchin, »es ist
nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aus
drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre
die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen, als neuer
Hotelangestellter, werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchen bekommen.
Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der
gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie
allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch
nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie
sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend
sein.«
»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«
»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehenbleibend, »da wären Sie aber
bald geweckt worden.« Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers,
klopfte und rief: »Therese!«
»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimme der kleinen
Schreibmaschinistin.
»Wenn du mich früh wecken gehst, so mußt du über den Gang gehen, hier
im Zimmer schläft ein Gast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, während
sie dies sagte. »Hast du verstanden?«
»Ja, Frau Oberköchin.«
»Also dann gute Nacht!«
»Gute Nacht wünsch ich.«
»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur Erklärung, »seit einigen
Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik