Page - 93 - in Amerika
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sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die
Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit
verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Da ich
aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein
muß, muß ich mich wecken lassen, und zwar besonders vorsichtig, damit ich
nicht noch nervöser werde, als ich es schon bin. Und da weckt mich eben die
Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles, und ich komme gar nicht
weg. Gute Nacht!« Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen.
Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf
gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer
bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer, oder, richtiger, ein
Repräsentationszimmer der Oberköchin, und ein Waschtisch war ihm zuliebe
eigens für diesen Abend hergebracht worden, aber dennoch fühlte sich Karl
nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war
richtig her gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit
gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine
großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene
Photographien im Rahmen und unter Glas; bei der Besichtigung des Zimmers
blieb Karl da stehen und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und
stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, unbehaglichen
Kleidern, mit locker aufgesetzten, kleinen, aber hochgehenden Hüten, die
rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren
und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl
besonders das eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen
gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von
einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform
waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese
Photographien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der
Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie
nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hätte
er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen
mögen.
Schon nach der ersten Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollständig
gewachsen war. Das Messing seines Aufzuges war am besten geputzt, keiner
der dreißig anderen Aufzüge konnte sich damit vergleichen, und es wäre
vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen
Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in
seiner Lässigkeit durch Karls Fleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein
geborener Amerikaner, namens Renell, ein eitler Junge mit dunklen Augen
und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug,
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book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik