Page - 98 - in Amerika
Image of the Page - 98 -
Text of the Page - 98 -
welche darin standen, waren gewissermaĂźen nur um das Fenster gelagert,
aber Karl verstand schon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den
Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigen Zimmers, und wenn er es auch
nicht ausdrĂĽcklich sagte, so merkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel.
Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm, und es wäre auch nicht gut möglich
gewesen, nach ihrem Besuch damals, am ersten Abend, noch Geheimnisse
vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und
hatte die Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen; aber
als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere Menschen
erwartet als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind, die er an der
Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunft ohne viel
Erklärungen nach Kanada ausgewandert, und die Zurückgebliebenen hatten
weder einen Brief noch eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum
Teil auch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den Massenquartieren
des New Yorker Ostens unauffindbar verloren.
Einmal erzählte Therese – Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf die
Straße – vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem
Winterabend – sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein – jede mit
ihrem BĂĽndel durch die StraĂźen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die
Mutter sie zuerst bei der Hand führte – es war ein Schneesturm und nicht
leicht vorwärtszukommen –, bis die Hand erlahmte und sie Therese, ohne sich
nach ihr umzusehen, loslieĂź, die sich nun MĂĽhe geben muĂźte, sich selbst an
den Röcken der Mutter festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber
die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese
SchneestĂĽrme in den langen, geraden New Yorker StraĂźen! Karl hatte noch
keinen Winter in New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der
dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen öffnen,
immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem Gesicht, man läuft,
aber kommt nicht weiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei
natürlich gegen die Erwachsenen im Vorteil, es läuft unter dem Wind durch
und hat noch ein wenig Freude an allem. So hatte auch damals Therese ihre
Mutter nicht ganz begreifen können, und sie war fest davon überzeugt, daß,
wenn sie sich an jenem Abend klüger – sie war eben noch ein so kleines Kind
– zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so jammervollen Tod hätte
erleiden mĂĽssen. Die Mutter war damals schon zwei Tage ohne Arbeit
gewesen, nicht das kleinste GeldstĂĽck war mehr vorhanden, der Tag war ohne
einen Bissen im Freien verbracht worden, und in ihren BĂĽndeln schleppten sie
nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie, vielleicht aus Aberglauben,
nicht wegzuwerfen wagten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen
Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fĂĽrchtete, wie sie
Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit
98
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik