Page - 111 - in Amerika
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»Das ist immer so, nur glaubt man es nicht«, sagte der Junge und lief zu
seinem Lift, da sich Leute näherten.
Karls Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Karl
Mitleid hatte, sagte: »Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man
solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu anderen Arbeiten
versetzt. Entlassen wurde, soviel ich weiß, wegen einer solchen Sache nur
einer. Du mußt dir eine gute Entschuldigung ausdenken. Auf keinen Fall sage,
daß dir plötzlich schlecht geworden ist, da lacht er dich aus. Da ist es schon
besser, du sagst, ein Gast hat dir irgendeine eilige Bestellung an einen anderen
Gast aufgegeben und du weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den
zweiten hast du nicht finden können.«
»Na«, sagte Karl, »es wird nicht so schlimm werden«, nach allem, was er
gehört hatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst
dieses Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drinnen im
Schlafsaal noch Robinson als lebendige Schuld, und es war bei dem galligen
Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, daß man sich mit keiner
oberflächlichen Untersuchung begnügen und Robinson schließlich doch noch
aufstöbern würde. Es bestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem
fremde Leute in den Schlafsaal nicht mitgenommen werden durften, aber dies
bestand nur deshalb nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten
werden.
Als Karl in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem
Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder in ein
Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste Hotelportier
überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann, den seine üppige,
reichgeschmückte Uniform – noch auf den Achseln und die Arme hinunter
schlängelten sich goldene Ketten und Bänder – noch breitschultriger machte,
als er von Natur aus war. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart, weit in
Spitzen ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der
schnellsten Kopfbewegung nicht. Im übrigen konnte sich der Mann infolge
seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich nicht anders
als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht richtig zu
verteilen.
Karl war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt
hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit
bedeutet, hält man bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem mußte man ihm
auch nicht gleich beim Eintreten sein Schuldbewußtsein ansehen. Der
Oberkellner hatte zwar flüchtig auf die sich öffnende Tür hingeblickt, war
dann aber sofort zu seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne
sich weiter um Karl zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik