Page - 115 - in Amerika
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da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben! Ich habe Sie jeden Tag einigemal
gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich
doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme.«
»Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal, ohne Ausnahme, du hast die
ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand zu halten, du
hast mich immer mit ›Oberportier‹ anzureden und nicht mit ›Sie‹. Und alles
das jedesmal und jedesmal.«
»Jedesmal?« wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie
er vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer
streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten
Morgen an, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepaßt,
etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiteres umständlich und dringlich
ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa
eine Photographie für ihn zurückgelassen hätten.
»Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt«, sagte der Portier, der
wieder ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war, und zeigte auf den noch
lesenden Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. »In deiner
nächsten Stellung wirst du es schon verstehen, den Portier zu grüßen, und
wenn es auch nur vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird.«
Karl sah ein, daß er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der
Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige
Tatsache wiederholt, und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung
der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings
schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei
Monate gedient, so gut er konnte, und gewiß besser als mancher andere
Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick
offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa noch in Amerika, Rücksicht
genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das
Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen,
wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die
Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen die
Enttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenigstens beim persönlichen
Abschied zu ersparen, brieflich verabschieden, hätte rasch seinen Koffer
packen und in der Stille fortgehen können. Blieb er aber auch nur einen Tag
noch, und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht, so erwartete ihn
nichts anderes als Aufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von
allen Seiten, der unerträgliche Anblick der Tränen Theresens und vielleicht
gar der Oberköchin und möglicherweise zuguterletzt auch noch eine
Bestrafung. Andererseits aber beirrte es ihn, daß er hier zwei Feinden
gegenüberstand und daß an jedem Wort, das er aussprechen würde, wenn
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik