Page - 116 - in Amerika
Image of the Page - 116 -
Text of the Page - 116 -
nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten deuten
würde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig die Ruhe, die im Zimmer
herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung, und der
Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis nach den
Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit große
Schwierigkeiten machte.
Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich
durch einen Blick auf Karl, daß dieser noch anwesend sei, und drehte die
Glocke des Tischtelephons an. Er rief mehrere Male »Hallo!«, aber niemand
meldete sich. »Es meldet sich niemand«, sagte er zum Oberportier. Dieser, der
das Telephonieren, wie es Karl schien, mit besonderem Interesse beobachtete,
sagte: »Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß schon wach. Läuten Sie
nur stärker.« In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung, das
telephonische Gegenzeichen. »Hier Oberkellner Isbary«, sagte der
Oberkellner. »Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am
Ende geweckt? Das tut mir sehr leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist es schon.
Aber es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie erschreckt habe. Sie wollten
während des Schlafens das Telephon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt
für mich keine Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache,
wegen der ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte sehr, ich
bleibe beim Telephon, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sie muß im Nachthemd zum Telephon gelaufen sein«, sagte der
Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit
gespanntem Gesichtsausdruck zum Telephonkasten sich gebückt gehalten
hatte. »Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen
Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt, und die muß es
heute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir leid, daß ich sie
aufgeschreckt habe, sie ist sowieso nervös.«
»Warum spricht sie nicht weiter?«
»Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist«, antwortete der
Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder. »Sie wird
sich schon finden«, redete er weiter ins Telephon hinein. »Sie dürfen sich
nicht von allem so erschrecken lassen. Sie brauchen wirklich eine gründliche
Erholung. Ja also, meine kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge namens« – er
drehte sich fragend nach Karl um, der, da er genau aufpaßte, gleich mit
seinem Namen aushelfen konnte –, »also namens Karl Roßmann. Wenn ich
mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat
er Ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten
verlassen, hat mir dadurch schwere, jetzt noch gar nicht übersehbare
Unannehmlichkeiten verursacht, und ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich
116
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik