Page - 125 - in Amerika
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Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß
und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie
so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut
erwarten können, sie werde im nächsten Augenblick sagen: ›Nun, Karl, die
Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klargestellt und braucht, wie
du richtig gesagt hast, noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir
jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn
Gerechtigkeit muß sein.‹
Statt dessen aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die
niemand zu unterbrechen gewagt hatte – nur die Uhr schlug in Bestätigung
der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte,
gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung
wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld –: »Nein, Karl,
nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein
besonderes Aussehen, und das hat, ich muß es gestehen, deine Sache nicht.
Ich darf das sagen und muß es auch sagen; ich muß es gestehen, denn ich bin
es, die mit dem besten Vorurteil für dich hergekommen ist. Du siehst, auch
Therese schweigt.« (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß
und sagte: »Karl, komm einmal her«, und als er zu ihr gekommen war –
gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der
Oberportier zu lebhaftem Gespräch –, umfaßte sie ihn mit der linken Hand,
ging mit ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers
und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: »Es ist möglich,
Karl, und darauf scheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich überhaupt
nicht verstehen, daß eine Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten recht
geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Oberportier
gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem
Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede selbst jetzt offen zu dir. Aber
solche kleine Rechtfertigungen helfen dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen
Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe, und
welcher der verläßlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine
Schuld klar ausgesprochen, und die scheint mir allerdings unwiderleglich.
Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist du nicht der,
für den ich dich gehalten habe. Und doch«, damit unterbrach sie sich
gewissermaßen selbst und sah flüchtig nach den beiden Herren zurück, »kann
ich es mir noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen
Jungen zu halten.«
»Frau Oberköchin! Frau Oberköchin!« mahnte der Oberkellner, der ihren
Blick aufgefangen hatte.
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik