Page - 152 - in Amerika
Image of the Page - 152 -
Text of the Page - 152 -
Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst du denn noch schlafen? Ich hätte
dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu
langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh ein
wenig auf, ich habe da unten, im Sessel drin, etwas zum Essen aufgehoben,
ich möchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch etwas.« Und Karl,
der aufstand, sah nun, wie Robinson, ohne aufzustehen, sich auf dem Bauch
herüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine
versilberte Schale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren von
Visitenkarten dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze
Wurst, einige dünne Zigaretten, eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von
Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu
einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück
Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfüm zu
enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie
und schnalzte zu Karl hinauf.
»Siehst du, Roßmann«, sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine
hinunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch
reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. »Siehst du,
Roßmann, so muß man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern
will. Du, ich bin ganz beiseitegeschoben. Und wenn man immerfort als Hund
behandelt wird, denkt man schließlich, man ist’s wirklich. Gut, daß du da bist,
Roßmann, ich kann wenigstens mit jemandem reden. Im Hause spricht ja
niemand mit mir. Wir sind verhaßt. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja
natürlich ein prächtiges Weib. Du –« und er winkte Karl zu sich herab, um
ihm zuzuflüstern – »ich habe sie einmal nackt gesehen. O!« Und in der
Erinnerung an diese Freude fing er an, Karls Beine zu drücken und zu
schlagen, bis Karl ausrief: »Robinson, du bist ja verrückt«, seine Hände
packte und zurückstieß.
»Du bist eben noch ein Kind, Roßmann«, sagte Robinson, zog einen Dolch,
den er an seiner Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die
Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. »Du mußt noch viel zulernen.
Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich doch. Willst du nicht auch
etwas essen? Nun vielleicht bekommst du Appetit, wenn du mir zuschaust.
Trinken willst du auch nicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig
bist du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem
man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich
sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr
nur etwas einfallen, einmal ist es ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie
schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen,
einmal will sie es anziehen, und da werde ich immer auf den Balkon
geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie sagt, aber meistens liegt sie
152
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik