Page - 155 - in Amerika
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etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben
Brunelda, die Treppe herauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte
die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen hat,
Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid mit einem roten Sonnenschirm
gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach Gott,
war sie schön! So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur, wie kann es so ein
Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen und der Diener ihr gleich
entgegengelaufen und haben sie fast hinaufgetragen. Wir sind rechts und links
von der Tür gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein
wenig stehengeblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte, und nun
weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war durch das Hungern
nicht ganz bei Verstand, und sie war eben in der Nähe noch schöner und riesig
breit und infolge eines besonderen Mieders, ich kann es dir dann im Kasten
zeigen, überall so fest; kurz, ich habe sie ein bißchen hinten angerührt, aber
ganz leicht, weißt du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden,
daß ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aber
schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm das
ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige gegeben
hätte, und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meine beiden Hände für
die Wange brauchte.«
»Was ihr getrieben habt!« sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangen
genommen, und setzte sich auf den Boden. »Das war also Brunelda?«
»Nun ja«, sagte Robinson, »das war Brunelda.«
»Sagtest du nicht einmal, daß sie eine Sängerin ist?« fragte Karl.
»Freilich ist sie eine Sängerin, und eine große Sängerin«, antwortete
Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hie und da
ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde, mit dem Finger wieder
zurückdrückte. »Aber das wußten wir natürlich damals noch nicht, wir sahen
nur, daß es eine reiche und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts
geschehen, und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie
tatsächlich nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den
Delamarche angesehen, der ihr wieder – wie er das schon trifft – gerade in die
Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: Komm mal auf ein
Weilchen hinein, und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt,
wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide
hineingegangen, und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Tür zugemacht.
Mich haben sie draußen vergessen, und da habe ich gedacht, es wird nicht gar
so lange dauern, und habe mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu
erwarten. Aber statt Delamarches ist der Diener herausgekommen und hat mir
eine ganze Schüssel Suppe herausgebracht. ›Eine Aufmerksamkeit
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik