Page - 167 - in Amerika
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Stille ihren Parteigesang emporbrüllte – man sah im Lichte der
Automobillaternen den Mund jedes einzelnen weit geöffnet –, bis dann die
inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner zehnmal so stark wie früher
aus allen Balkonen und Fenstern hervorschrien und die Partei unten nach
ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe wenigstens gänzlichen
Verstummen brachten.
»Wie gefällt es dir, Kleiner?« fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin
und her drehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl
antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem
Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten
machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn
er suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfaßt,
immerfort beiseitezuschieben. »Willst du nicht durch den Gucker schauen?«
fragte Brunelda und klopfte auf Karls Brust, um zu zeigen, daß sie ihn meine.
»Ich sehe genug«, sagte Karl.
»Versuch es doch«, sagte sie, »du wirst besser sehen.«
»Ich habe gute Augen«, antwortete Karl, »ich sehe alles.« Er empfand es
nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker seinen
Augen näherte, und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine Wort »Du!«
melodisch, aber drohend. Und schon hatte Karl den Gucker an seinen Augen
und sah nun tatsächlich nichts.
»Ich sehe ja nichts«, sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber den
Gucker hielt sie fest, und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er
weder zurück noch seitwärts schieben.
»Jetzt siehst du aber schon«, sagte sie und drehte an der Schraube des
Guckers.
»Nein, ich sehe noch immer nichts«, sagte Karl und dachte daran, daß er
Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas
unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
»Wann wirst du denn endlich sehen?« sagte sie und drehte – Karl hatte nun
sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem – weiter an der Schraube.
»Jetzt?« fragte sie.
»Nein, nein, nein!« rief Karl, obwohl er nun tatsächlich, wenn auch nur
sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda
irgend etwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor Karls
Gesicht, und Karl konnte, ohne daß sie es besonders beachtete, unter dem
Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später bestand sie auch nicht mehr auf
ihrem Willen und benützte den Gucker für sich.
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik