Page - 179 - in Amerika
Image of the Page - 179 -
Text of the Page - 179 -
sich.
»Ach, was denken Sie denn«, sagte der Student, »es ist leichter, hier
Bezirksrichter zu werden als Türöffner bei Montly.«
Karl schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er und der
den Delamarche aus irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen haßte,
der dagegen Karl gewiß nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein Wort
der Aufmunterung, den Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte er noch
gar nicht die Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor der er nur bei
Delamarche halbwegs geschützt war.
»Sie haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr?
Wenn man die Verhältnisse nicht kennte, sollte man doch denken, dieser
Kandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder er
komme doch wenigstens in Betracht, nicht?«
»Ich verstehe von Politik nichts«, sagte Karl.
»Das ist ein Fehler«, sagte der Student. »Aber abgesehen davon haben Sie
doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde
gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der
Mann hat, meiner Meinung nach, nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu
werden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer, der ihn
kennt. Er ist kein unfähiger Mensch, und seinen politischen Ansichten und
seiner politischen Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für
den Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, daß er gewählt werden könnte, er
wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird für die
Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das wird alles
sein.«
Karl und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der
Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.
»Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?« fragte er dann.
»Ich muß ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wieviel ich noch
durchzuarbeiten habe.« Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karl
einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
»Dann also gute Nacht«, sagte Karl und verbeugte sich.
»Kommen Sie doch einmal zu uns herüber«, sagte der Student, der schon
wieder an seinem Tisch saß, »natürlich nur, wenn Sie Lust haben. Sie werden
hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe ich
auch für Sie Zeit.«
»Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?« fragte Karl.
179
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik