Page - 183 - in Amerika
Image of the Page - 183 -
Text of the Page - 183 -
flachen Hand hin und her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf
die Schulter und sagte: »Viel Glück zur Fahrt nach Clayton.« Karl nickte
stumm und rechnete weiter. Aber er entschloß sich bald, teilte das für die
Fahrt notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn. Als er in Clayton
ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm,
die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos
geblasen. Aber das störte Karl nicht, es bestätigte ihm vielmehr, daß das
Theater von Oklahoma ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem
Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, daß
alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er
begriff nicht, wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck, um Personal zu
erhalten, derartige Aufwendungen machten konnte. Vor dem Eingang zum
Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem Hunderte von
Frauen, als Engel gekleidet, in weißen Tüchern mit großen Flügeln am
Rücken, auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht
unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das
aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der Engelkleidung
hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei
Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre
kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes
Haar hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und an
den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente
in der verschiedensten Größe verwendet; es gab ganz niedrige Frauen, nicht
weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in
solche Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr
glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen. Es gab nicht viele Zuhörer. Klein,
im Vergleich zu den großen Gestalten, gingen etwa zehn Burschen vor dem
Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einander
diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und
sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger älterer Mann war zu sehen, er
stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im
Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit
der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten
zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, daß sie enttäuscht waren. Sie
hatten wohl auch erwartet, eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses
Trompetenblasen aber beirrte sie. Karl war in der gleichen Lage. Er trat in die
Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: »Hier
ist doch die Aufnahmestelle für das Theater von Oklahoma?«
»Ich glaubte es auch«, sagte der Mann, »aber wir warten hier schon seit
einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu
sehen, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte.«
183
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik