Page - 190 - in Amerika
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vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei. Nur
schickte man ihn von hier, da man hörte, daß er eine Mittelschule besucht
hatte, in die Kanzlei für gewesene Mittelschüler. Als Karl dort aber sagte, er
hätte eine europäische Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für
unzuständig und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen.
Es war eine Bude am äußeren Rand, nicht nur kleiner, sondern sogar niedriger
als alle anderen. Der Diener, der ihn hierhergebracht hatte, war wütend über
die lange Führung und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung
nach Karl allein die Schuld tragen müßte. Er wartete nicht mehr die Fragen
ab, sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht.
Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit, die
dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der
Realschule zu Hause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie
sich gleich herausstellte, nur in Einzelheiten; aber die auf der breiten Nase
ruhende Brille, der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft
gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute Stimme
hielten Karl noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise mußte er auch
nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu als in den anderen
Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen, daß seine
Legitimationspapiere fehlten, und der Kanzleileiter nannte es eine
unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhand
hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen Fragen
des Leiters, während sich dieser gerade zu einer größeren Frage anschickte,
Karl für aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den
Schreiber, dieser aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte
»Aufgenommen« und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein.
Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu
sein, sei schon etwas so Schmähliches, daß man es jedem, der es von sich
behauptete, ohne weiteres glauben könnte. Karl für seinen Teil hatte nichts
dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber
noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach seinem Namen fragte.
Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu, seinen wirklichen Namen zu
nennen und aufschreiben zu lassen. Sobald er hier auch nur die kleinste Stelle
erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen würde, dann mochte man seinen
Namen erfahren, jetzt aber nicht; allzulange hatte er ihn verschwiegen, als daß
er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein
anderer Name einfiel, den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: »Negro«.
»Negro?« fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als
hätte Karl jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht. Auch der
Schreiber sah Karl eine Weile lang prüfend an, dann aber wiederholte er
»Negro« und schrieb den Namen ein.
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Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik