Page - 198 - in Amerika
Image of the Page - 198 -
Text of the Page - 198 -
Lenkstange des Kinderwagens und erhob die andere, um die Truppe
aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er
an den Seiten entlang, faßte einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und
suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen müßten.
Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute
auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie: »Alle
diese gehören zum Theater von Oklahoma!«, das Theater schien viel
bekannter zu sein, als Karl angenommen hatte, allerdings hatte er sich um
Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens für die
Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum Einsteigen mehr als der
Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne Abteilung, ordnete hie und da etwas,
und erst dann stieg er selbst ein. Karl hatte zufällig einen Fensterplatz
bekommen und Giacomo neben sich gezogen. So saßen sie
aneinandergedrängt und freuten sich im Grunde beide auf die Fahrt. So
sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu
fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die
Burschen ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.
Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe
Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster, und Giacomo drängte sich so
lange mit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel mit Kartenspiel
beschäftigten, dessen überdrüssig wurden und ihm freiwillig den Fensterplatz
einräumten. Karl dankte ihnen – Giacomos Englisch war nicht jedem
verständlich –, und sie wurden im Laufe der Zeit, wie es unter
Coupégenossen nicht anders sein kann, viel freundlicher, doch war auch ihre
Freundlichkeit oft lästig, da sie zum Beispiel immer, wenn ihnen eine Karte
auf den Boden fiel und sie den Boden nach ihr absuchten, Karl oder Giacomo
mit aller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schrie dann, immer von neuem
überrascht, und zog das Bein in die Höhe, Karl versuchte einmal, mit einem
Fußtritt zu antworten, duldete aber im übrigen alles schweigend. Alles, was
sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfüllten Coupé
ereignete, verging vor dem, was draußen zu sehen war.
Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarze
Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich
aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale,
zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in
der sie sich verloren, breite Bergströme kamen, als große Wellen auf dem
hügeligen Untergrund eilend und in sich tausend kleine Schaumwellen
treibend, sie stürzten sich unter die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie
waren so nahe, daß der Hauch der Kühle das Gesicht erschauern machte.
198
back to the
book Amerika"
Amerika
- Title
- Amerika
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1927
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 212
- Keywords
- Der Verschollene, Literatur, Schriftsteller, Erzählung
- Categories
- Weiteres Belletristik