Page - 32 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Es mag ein weiter und nicht eben bequemer Weg sein […] zum Verständnis […]
dieser eigenwilligen Vorläufer, die keine Vorläufigen gewesen sind. Sie waren ein kul-
turelles Endstadium, wird mancher sagen […]. Ein Wellenberg der Entwicklung trug
sie, ob sie auch bereits in das Wellental hinabblickten. Dort schweben nun wir Heuti-
gen und ermessen kaum die Forderungen der Schönheit, der Gerechtigkeit, hoch ge-
stellt, wie sie waren, und staunen ĂĽber die freie RĂĽckhaltlosigkeit des Ausdrucks.62
Berthold Viertels Blick auf seine HeldInnen, die »eigenwilligen Vorläufer«,
bleibt zwar nicht unkritisch, doch insgesamt ging es tatsächlich um den Erhalt
einer (männlich dominierten) Tradition und also doch um eine Heldenge-
schichte – das ist immer mitzudenken. Ebenso wie die Tatsache, dass Autobio-
grafien fĂĽr ein Publikum geschrieben werden, dass sie eine am Buchmarkt stabil
nachgefragte Ware sind. Viertel erkannte Autobiografien als »Bilanzfälscher von
Beruf, auch wenn sie über ihren Bankrott Rechnung legen.« Jede Art der Bio-
grafie bot sich schließlich »zum Verkauf an«, auch wenn »Mißerfolg […] eine
wenig begehrte Ware« sein mochte.63 Und er zweifelte – insbesondere nach
seiner RĂĽckkehr nach Ă–sterreichÂ
– stark am zeitgenössischen Interesse für seine
Geschichte. Die Frage, ob er sich als »älterer Europäer« mit einer Jugend »nach
den Ereignissen« würde verständigen können, beantwortete er negativ und
dachte eher an ein kommendes Publikum.64
Mit seinem Fokus auf kulturelle Konstellationen im Wien um 1900 und
seinem Diskurs um Scheitern ist Viertels Schreiben zugleich »typisch« und
»untypisch« für Autobiografien des Exils. Diesen wurden Charakteristika wie
»hohe Selbstreflexivität«, »Marginalisierung oder Exaltiertheit des Selbst«, »An-
spruch auf repräsentative Gültigkeit als Vertreter einer Generation« zugeschrie-
ben ; teils wurden sie auch als besonders Ich-zentrierte, stereotype Erfolgs-
geschichten klassifiziert.65 Berthold Viertels autobiografisches Projekt kann als
Paradebeispiel für selbstreflexiven »Widerstand gegen die Gattung Autobiogra-
phie, die sich in ihrer Fragmentierung zeigte«,66 gelten. Er war sich selbst be-
62 BV, Die Herrengasse, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 250.
63 BV, Wiederkehr des kleinen Lebens, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 41–42.
64 BV, Heimkehr nach Europa, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 269 und 274.
65 Critchfield, Richard D., When Lucifer Cometh. The Autobiographical Discourse of Writers and
Intellectuals Exiled During the Third Reich, New York 1994 bzw. Koopmann, Helmut, Autobio-
graphien des Exils, in : Misch, Manfred (Hg.), Autobiographien als Zeitzeugen, TĂĽbingen 2001,
117–138 ; Prager, Katharina, Überlegungen zu Biographie und Exil, in : Adunka u.a. (Hg.), Exilfor-
schung : Ă–sterreich, 2017.
66 Critchfield, Richard D., Einige Ăśberlegungen zur Problematik der Exilautobiographik, in : Koebner,
Thomas u.a. (Hg.), Erinnerungen ans ExilÂ
– kritische Lektüre der Autobiographien nach 1933 und
andere Themen (=Â
Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 2), München 1984, 41–55.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359