Page - 73 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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an seine Exfrau Salka Viertel fest, die er 1944 zuletzt gesehen hatte und von der
er eben auf dem Postweg geschieden worden war, um einen Neuanfang in Eu-
ropa zusammen mit der Schauspielerin Elisabeth Neumann, mit der Viertel seit
etwa sechs Jahren liiert war, bĂĽrokratisch zu erleichtern. Das scheidende Ehe-
paar hatte die Sache sehr pragmatisch gesehen und gemeint, dass eine Schei-
dung jedenfalls keine Veränderung für ihre »menschliche Beziehung« bedeuten
wĂĽrde.86 Insofern war es auch logisch, dass Salka Viertel eine der wichtigsten
Ansprechpersonen in Sachen »Rückkehr« blieb :
Wie es dort aussieht ? Keine Beschreibung in Worten, keine Photographie kann einen
Begriff davon geben. […] Das Erstaunliche ist : die Hitlerjahre scheint es nicht gege-
ben zu haben ; wir wissen, dass es sie nur allzu sehr gegeben hat, mit Millionen Toten,
Gemordeten, Gemarterten, den unsagbaren Greueln. Aber den Menschen dieser
Sphäre sieht man nichts davon an, und sie setzen genau dort fort, wo es damals, im
Jahre 1928, also vor 20Â
Jahren, aufgehört hat. […] Viel Hass im Hintergrund, die alten
Mächte lauern […] ; es ist wie 1919, nur […] millionenmal ärger, und keine Revolu-
tion hat es gegeben, auch nicht so viele wie damals. Die Ruinen – […] Weißt Du,
wenn man von Ruinen spricht, darf man nicht vergessen, wie viele Menschenruinen
es gibt, das Ganze ist eine Ruine, die Ruine eines Volkes, das dennoch weiterlebt,
arbeitet, weiterhasst, denkt, weiterstrebt. […] Am Ende ist es hier wie heute überall,
nur krasser. Was hier hassenswert und gefährlich ist, ist es überall. Die hier sind schon
ein Stück weiter, und das macht die Emigrantengefühle schwinden, widerlegt sie –
wenn Du weißt, was ich meine. Aber das kann man in London keinem erzählen, am
wenigsten beim B.B.C.87
Mehr als zuvor dĂĽrfte es Berthold Viertel nach dieser Reise darum gegangen
sein, möglichst vor Ort und in deutscher Sprache auf dieses Verdrängte hinzu-
weisen, Parallelen in Erinnerung zu rufen und – wie er schon im Juli 1947 an
Alice Herdan-Zuckmayer schriebÂ
– »als Kritiker und Lehrer [zu] wirken und so
[zu] versuchen, neue Grundlagen zu legen und zu festigen.«88
Im Sommer 1948 lag schlieĂźlich ein Angebot vor, am Wiener Burgtheater als
Regisseur zu arbeiten – gerade am diesem konservativen Staatstheater, das Vier-
tel als »Nationalheiligtum« und »Kulturmythos« schon um 1900 problematisch
fand und das eben dabei war, als »Bollwerk eines unzerstörbaren Österreicher-
tums« wiederaufzuerstehen. Es war Viertels eben zum Burgtheaterdirektor er-
86 Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 448–450.
87 BV an Salka Viertel, 24. April 1948, 78.881/3, K35, A : Viertel, DLA.
88 BV an Alice Herdan-Zuckmayer, 1. Juli 1947, o.S., K47, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359