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  Innerhalb 
Österreichs 
– 
Konfrontationen 
mit 
»österreichischen 
Illusionen« |  79
rungen EuropasÂ
–, diese ruhen zu lassen.21 Zum einen war es die triste Situation
der unmittelbaren Nachkriegszeit, die dieses Bemühen um »Normalität«, Stabi-
lität und Aussöhnung bedingte. Zum anderen wollten die in der provisorischen
Regierung vertretenen, selbsterklärten »antifaschistischen Parteien« – die Sozi-
alistische Partei Ă–sterreichs (SPĂ–), die Ă–sterreichische Volkspartei (Ă–VP) und
die Kommunistische Partei Ă–sterreichs (KPĂ–)Â
– keinesfalls die Fehler von 1918
wiederholen und sich im Kampf gegeneinander aufreiben. Vor allem die Vertre-
ter der beiden großen, politisch relevanten »Lager« SPÖ und ÖVP waren sich
ihrer »schmerzhaften Wundstellen aus der jüngsten Vergangenheit« bewusst
und einigten sich rasch auf ein wechselseitiges Respektieren von Tabuzonen.22
SchlieĂźlich, so eine weitere Argumentationslinie des Konsenses, waren Vertre-
terInnen beider GroĂźparteien im Konzentrationslager inhaftiert gewesen. Unter
der Beschwörung des »Geists der Lagerstraße« wurde beschlossen, den Wieder-
aufbau Österreichs »über alle Gräben hinweg« in Angriff zu nehmen – ja, diese
Gräben vorerst überhaupt »zuzuschütten«.23 Mit dem Schlagwort der »Stunde
Null« sollte also ein klarer Strich unter die nationalsozialistische Ära gezogen
und demokratischer »Neuanfang« auf allen gesellschaftlichen Ebenen signali-
siert werden.
Auch Berthold Viertel hatte sich 1944 ĂĽberzeugen lassen, dass ein freies,
selbstständiges und demokratisches Österreich »an sich eine große Sache« sein
konnte : »Welch eine Möglichkeit, hier einen neuen Anfang zu setzen !«24 Er
plädierte allerdings fĂĽr eine »Erneuerung vom Fundament her«Â
– mit »von allem
Anfang an kritischer Wachsamkeit gegenĂĽber den EinflĂĽssen einer allzu histo-
rischen Vergangenheit […]. Wir können nur an eine Zukunft glauben, die von
den Fehlern der Vergangenheit etwas gelernt hat. Diese zu vertuschen wäre ein
nachträgliches Unrecht, begangen an den Besten.«25 Dieses »Beste« waren für
Berthold Viertel die »kritischen und revolutionären Geister« wie die Revolution
von 1848 oder die Arbeiterbewegung. Die vorherrschende Tendenz stand jedoch
in deutlichem Gegensatz zu seiner Haltung, Konflikte produktiv aufzuarbeiten.
Im post-totalitären Österreich knüpfte an diese kritischen Geister vorerst noch
21 Mattl, Siegfried und Stuhlpfarrer, Karl, Abwehr und Inszenierung im Labyrinth der Zweiten Re-
publik, in : Tálos, Emmerich u.a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000,
902–934.
22 Pelinka, Anton, Von der Funktionalität von Tabus. Zu den »Lebenslügen« der Zweiten Republik,
in : Kos, Wolfgang und Rigele, Georg (Hg.), Inventur 45/55. Ă–sterreich im ersten Jahrzehnt der
Zweiten Republik, Wien 1996, 23–32.
23 Reiter, Margit, Umkämpfte Zonen in der österreichischen Vergangenheitspolitik, in : Majoros, Ist-
ván u.a. (Hg.), Österreich und Ungarn im Kalten Krieg, Budapest 2010, 101–126, 103.
24 BV, Austria Rediviva, in : Kaiser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 196–197.
25 Ibid.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359