Page - 110 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Moderne
[S]ie [waren] Wiener Figuren, populär, auch wenn man sie verhöhnte, verhät-
schelte, auch wenn man sie ermordete.«50 Zu diesen »Heroen« oder »populären
Figuren« gehörten für Viertel unter anderem :
Siegmund [sic!] Freud [als Begründer der Psychoanalyse] […] [Er] war bereits aner-
kannt, wenn auch nicht in all seinen Folgen erkannt. [Der Komponist] Gustav
Mahler regierte, streng und gewaltlos, gefeiert und gefĂĽrchtet und schlieĂźlich ver-
trieben, die Oper, die er zu einem Institut großer Kunst gemacht hatte. […] Wir
Knaben folgten ihm auf der Straße […]. Aber trotz der leidenschaftlichen Vereh-
rung, ja Ehrfurcht […] wurden seine ersten Symphonien im Großen Musikvereins-
saal nicht viel weniger verlacht als was man von [dem Komponisten Arnold] Schön-
berg hörte und nicht anhören wollte. [Der Maler] Oskar Kokoschka veröffentlichte
die »Träumenden Knaben«, und bald erregten auch seine ersten Porträts, welche die
Gesichter bloßlegten, statt ihnen wienerisch zu schmeicheln […] sensationellen
Unwillen. [Der Architekt] Adolf Loos ging dem landesĂĽblichen Geschmack auf die
Nieren, indem er das Ornament brandmarkte, und einer gereinigten Form, einem
wohl verstandenen Material die Ehre wiederzugeben versuchte ; auch er ein Täter,
ein Reformer, ein Sittenverbesserer bis in die Tafelsitten hinein. EinflĂĽsse aus der
groĂźen Welt da drauĂźen, [der britische Schriftsteller und Sozialphilosoph John]
Ruskin, [die schwedische Reformpädagogin] Ellen Key, hatten hereingewirkt […].
Und alle diese Erscheinungen zusammenfassend, die [Zeitschrift] ›Fackel‹ des
Haupt-Attentäters Karl Kraus …51
Karl Kraus hatte 1896 der Kulturszene der »Väter« offiziell seine Gegnerschaft
erklärt und damit sein geistiges und künstlerisches Selbstverständnis begründet :
Sein erster bekannter satirischer Text befasste sichÂ
– noch vor der Gründung der
Fackel – mit der »Demolirung« der »kaffeehausdekadenzmodernen« Ästheten
des »Jungen Wien«.52 Als solcher »Spielverderber« im Wiener Kulturleben war
Kraus frĂĽh die wesentlichste Instanz fĂĽr Berthold Viertel.53
50 BV, Heimkehr nach Europa, geschrieben um den 9. November 1932, 296, K19, A : Viertel, DLA ;
Janik, Allan und Toulmin, Stephen, Wittgensteins Wien, Wien 1987, 1987, 42–43.
51 BV, Café Central [Heft II], o.D. [wahrscheinlich Dezember 1948], o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Unerwähnt bleiben bei Viertel Erneuerungsbewegungen im Bereich der Ökonomie, des Rechts, der
Frauenemanzipation, aber auch in den ihm näherstehenden Bereichen der Kunstgeschichte und der
Philosophie. Bemerkenswert, aber rezeptionsgeschichtlich erklärbar ist vor allem die Leerstelle um
Ludwig Wittgenstein.
52 BV, Der Olymp und das Burgtheater, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 233.
53 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden 1921, 19 ; vgl. Janik, Vienna 1900 Revisited,
in : Beller (Hg.), Rethinking Vienna, 2001, 27–56, 42 : »Kraus set the tone for this group.«
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359