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  Monarchisches 
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zerreißende Kraft für den Vielvölkerstaat blieb :4 Vorstellungen von »Nation«,
»Volk« und »Rasse« durchdrangen die »Königreiche und Länder« immer stärker :
TschechInnen, PolInnen, ItalienerInnen, RuthenInnen schlossen zunehmend an
eigene nationale Identitätsangebote an und viele andere, für die »Österreich« als
Nation eine vergleichsweise schwammige Vorstellung blieb, fĂĽhlten sich einer
»deutschen Kultur« verbunden. Die »Emporkömmlings-Macht«5 Deutschland
verkörperte als neuer Staat unter einer jungen Dynastie das zeitgemäße natio-
nale Einigungsideal wie kein anderer. Die Hohenzollern hatten die Chance des
Trends »Nationalismus« nach 1848 zu nutzen gewusst, wie Berthold Viertel
meinte, und dreißig Kleinstaaten 1871 zu einem der mächtigsten Reiche Euro-
pas geeint :
Das Aufkommen der preußischen Hausmacht, die von […] den Hohenzollern reprä-
sentiert wurde, schuf das eigentliche Deutsche Reich, ein modernes Konkurrenzun-
ternehmen. Dieses war national geeinigt, aber deshalb politisch nicht einheitlicher ;
[…]. Es herrschte eine eigentümliche Polarität zwischen diesen beiden Reichen und
Hausmächten, der katholischen und der protestantischen. […] In der Welt, welche
von der industriellen Revolution umgeschaffen und vom Kapitalismus frisch gestaltet
worden war, wirkte Österreich zu alt und Deutschland zu neu […].6
Es war vor allem die Person des österreichischen Kaisers Franz Joseph, die
Öster reich so »alt« wirken ließ. Er war der Kaiser, der 1848 gewaltsam zum
Neoabsolutismus zurĂĽckkehrt war.7 Berthold Viertel beschrieb die darauffol-
gende Entwicklung des am längsten regierenden Habsburgers, aus der am längs-
ten regierenden Dynastie Europas, folgendermaĂźen :
Der Kaiser ist ein Mann, der gewöhnt ist, die Schläge des Schicksals als Lehren zu
empfangen : das ist das Wesen seiner eigenartigen passiven Religiosität. Er hat
schließlich seinen Völkern eine Konstitution gewähren müssen, […] [aber] regiert
wird, statt durch das Parlament, immer wieder mit dem Notparagraphen. Die Dialek-
tik dieses so vielfach zusammengesetzten Staates ist eine […] komplizierte Maschi-
nerie und der Kaiser hat gelernt, sich ihrer weise zu bedienen. Der Autokrat ist dabei
4 Shedel, Fin de Siècle or Jahrhundertwende, in : Beller (Hg.), Rethinking Vienna, 2001, 80–104 ;
Heindl, Waltraud, Gehorsame Rebellen. BĂĽrokratie und Beamte in Ă–sterreich. 1780 bis 1848 bzw.
Josephinische Mandarine. BĂĽrokratie und Beamte in Ă–sterreich. 1848 bis 1914, Wien/Graz u.a.
2013.
5 BV, Autobiographie. Ă–sterreich. Illusionen, o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
6 BV, o.T. [Wie ein gewaltiges Reich …], o.D., o.S., K14, A : Viertel, DLA.
7 Shedel, Fin de Siècle or Jahrhundertwende, in : Beller (Hg.), Rethinking Vienna, 2001, 80–104, 94–
95.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359