Page - 141 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Berthold Viertel kam an einem Sonntag auf die Welt, der nächste Tag war der
damals noch gesetzlich verankerte christliche Feiertag der Heiligen Peter und
Paul. Nach anhaltend schwĂĽlem Wetter gingen nachmittags Gewitter ĂĽber
Wien nieder. Der Kaiser Franz Joseph brach an diesem Abend in die Sommer-
frische nach Bad Ischl auf. Die Zeitungen spekulierten ĂĽber bevorstehende
Ausgleichsverhandlungen zwischen Ă–sterreich und Ungarn und warnten vor
einer Cholera-Epidemie in Spanien. Das k.k. Hofburgtheater war geschlossen,
für den nächsten Abend war Shakespeares Antonius und Cleopatra angekündigt.8
Als Kind einer Immigrantenfamilie gehörte er zu den nur 40 Prozent ausma-
chenden BewohnerInnen Wiens, die tatsächlich in dieser Stadt geboren worden
waren – über 50 Prozent der EinwohnerInnen waren ImmigrantInnen.9 Als
männliches Kind in einer patriarchal organisierten Welt war Berthold Viertel
vor allem ein Garant der Zukunft fĂĽr seine ins KleinbĂĽrgertum aufsteigende
Familie. Er war Erbe und »Thronfolger« und somit, so meinte er selbst, ein sehr
behütetes, »verwöhntes« Kind : »Windradln«, damals auf den Wiener Straßen
zum Verkauf angeboten, wurden zu seinem »Hoheitszeichen und Glücksymbol«.
Immer wieder erzählte Berthold Viertel, wie er die Erwachsenen mit »Szenen
von peinlicher Heftigkeit« – »er weinte und schrie bis er blau im Gesicht war« –
zum Kauf von Windradeln nötigte.10 Vor allem die Schwestern der Mutter er-
zählten solche Geschichten von einem kleinen »Märchenprinzen« und blondlo-
ckigen »Cherub«, doch eine »Photographie« als Beleg dieser Darstellungen gibt
es nicht mehr :
So soll der Knabe […] lange, seidene, blonde Locken gehabt haben, die ihm auf den
Kragen seiner Matrosenbluse fielen. […] Von dem Märchenprinzen, den die Tanten
ihm später […] wie Zauberinnen vorgesungen haben, gibt es eine Photographie. Sie
zeigt den Prinzen auf einem Schemel in einer romantischen Felsenlandschaft sitzend,
wie sie […] Mode war. […] Es ist wahr, der Knabe blickt ein wenig aus der Wirklich-
keit hinaus und über sie hinweg.11 […] Man erzählte mir später, dass ich […] oft
krank war. Weiber kamen zu meiner Mutter und warnten sie, ich wĂĽrde bĂĽcklig wer-
den. […] Die weisen Frauen des Bezirkes Mariahilf versetzten meine Mutter durch
diese Prophezeiung in groĂźen Schrecken. Sie ist nicht eingetroffen. Aber vielleicht
war es eine ärgere Art von Verwachsenheit, an den Illusionen unserer Epoche zu lei-
8 Wiener Zeitung und Neue Freie Presse, 28. Juni 1885.
9 Csáky, Moritz u.a., Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004,
13–44, 18 ; Csáky, Gedächtnis der Städte, 2010, 204.
10 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA, vgl.
auch Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 3 (Motto), 39 und 57.
11 BV, Autobiographisch, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359