Page - 143 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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  Jüdisches 
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Viertel und Klausner bald als das erfolgreichste und wohlhabendste. Salomon
wurde zum »Erhalter von fünf, sechs anderen Familien, all der Onkel und Tan-
ten, die Fiasko machen«18. Im Schirmgeschäft von Anna Viertel wurden deren
Schwestern als Angestellte beschäftigt, im Möbelgeschäft von Salomon Viertel
war Leopold Klausner als Kontorist angestellt. Wahrscheinlich ist auch, dass
Salomons Bruder Leopold Viertl [!], ein Regenschirmerzeuger in Neulerchen-
feld, Annas Geschäft belieferte. Einerseits belegt dieser innerfamiliäre Zusam-
menhalt – später lebten auch Annas Eltern im Haus der Viertels –, dass galizi-
sche ZuwandererInnen »eher unter sich blieben« und in Gruppen zu »Wienern
wurden«.19 Andererseits zeigt sich in Berthold Viertels Eltern auch deutlich die
Öffnung gegenüber dem nicht-jüdischen Wien – vor allem in den Geschäften
selbst, aber auch in Kaffeehäusern, die Salomon Viertel frequentierte, und im
Theater, das Anna Viertel liebte. »Die durchschnittliche jüdische Familie blieb
nach innen jüdisch, wurde nach außen bürgerlich«20. Doch was war und blieb sie
in welchem AusmaĂź ?
Wie tief saĂź eigentlich das Ghetto in solchen Juden ? In der Vertraulichkeit sprachen
sie noch das jiddische Idiom, er öfter und lieber als sie. Auch war er der frömmere, er
besuchte einen kleinen, orthodoxen Tempel, nicht eines der dem Komfort der Welt-
stadt angeglichen und sozusagen ins Hochdeutsche übersetzten Gotteshäuser. Aber
seine Frömmigkeit ließ nach und ging allmählich in Aberglauben über. Die Speisege-
setze wurden, solange die Kinder klein waren, noch gehalten, darauf sah die Frau ; im
Ăśbrigen war sie eine heimliche Skeptikerin und arbeitete an ihrer Bildung, bevor-
zugte bessere Bücher und die […] Klassiker im Theater. […] Sie waren jung ins ge-
schäftliche Leben eingetreten […]. Besitzer einer proto[ko]llierten Firma in der
Reichshauptstadt zu sein, als solcher vom Gremium der Geschäftsleute anerkannt zu
sein, war sein höchster Ehrgeiz. Sie lebten mäßig.21
Die Frage nach der jüdischen Identität seiner Eltern blieb also selbst für den
Sohn offen. Sie hielten am »Judentum« eher als »sozial-mentale« denn als »reli-
giöse Zugehörigkeit« fest – es wurde weder besonders hervorgehoben noch all-
täglich gelebt. Viertel konnte also nur Indizien auflisten und die schleichende
ist, Wechselwirkungen präzise zu beschreiben. Auch der weniger »aufgeladene« Terminus »Ak-
kulturation« fasst die kulturellen Tranfers nicht adäquat (vgl. John, Michael und Lichtblau, Albert,
Schmelztiegel Wien – Einst und Jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung und
Minderheiten. Aufsätze, Quellen, Kommentare, Wien/Köln/Weimar 1993, 382–416).
18 BV, Der Besuch/Der Knabe FĂĽrth, 34, o.D., K10, A : Viertel, DLA.
19 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 1999, 55.
20 Bolbecher/Kaiser, Nachwort, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 357–368, 363.
21 BV, Familie und Kindheit in Wien (grĂĽnes Heft), o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359