Page - 158 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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schlechts-Regungen, blitzartig den Kitzel enthĂĽllend, der aus der Viel-Rassig-
keit stammt.«34 Zugleich war der »Beichtvater«, den er zusammen mit Marie
besucht hatte, assoziiert mit christlichen SchuldgefĂĽhlen und katholischer
Sinnlichkeit – und er blieb in seinen Beziehungen zu Frauen lebenslang ein
wichtiger Begriff für Viertel.35 Und schließlich – und das ist, egal in welcher
Lesart, der verstörendste Aspekt von Viertels Erinnerung an das »österreichi-
sche« Dienstmädchen – gestand er in einem autobiografischen Fragment die
»Vergewaltigung« einer Hausangestellten und nannte diese, obwohl es um 1900
gebräuchlich war, solche »Kavalierdelikte« mit kollektivem Augenzwinkern an-
ders zu umschreiben, auch beim Namen. Von dieser Geschichte, die im Juni
1903 stattgefunden haben könnte, gibt es bemerkenswerterweise nur eine Vari-
ante – es ist fraglich, ob sie in dieser Version auch an die Öffentlichkeit gelangt
wäre :
Ich verübte noch rasch ein häusliches Verbrechen. Als ich in der Nacht vor der Flucht
heimkam, und mir das Dienstmädchen öffneteÂ
– sie war im Hemde und ich griff nach
ihr, nahm sie in die Arme, ich rang mit ihr und ich drängte sie an die Wand. […] Wir
wagten nicht zu flĂĽstern und unterdrĂĽckten sogar unser Keuchen. Es war eine vom
sozialen Standpunkt durchaus unzulässige Handlung. Nütze ich nicht ihr Dienstver-
hältnis aus, ihre berufliche Zwangslage ? Ich, der ich morgen fortgehen und mich den
Folgen meiner Tat entziehen wĂĽrde ? Setzte ich nicht alles aufs Spiel, meinen ganzen
damaligen Lebensplan ? Was, wenn sie aufschrie, um Hilfe rief […] ? Verließ ich mich
auf Maries Loyalität, auf ihre Neigung, von der sie mir schon vorher unmissverständ-
liche Zeichen gegeben hatte, auf ihre erweckte Begierde ? Aber sie wollte doch nicht.
Sie wehrte sich ernsthaft, wenn auch immer schwächer. Sie war ein Instinktgeschöpf,
blond und voll […]. Die Sache fand nun ihr naturgewolltes Ende, […] neben dem
Haustor vermischten wir uns. Wie, wenn sie schwanger wĂĽrde ? Aber daran dachte ich
erst ein halbes Jahr später, und dann hieß die Frage : wie, wenn sie schwanger gewor-
den wäre ?36
Es wäre anachronistisch, diese Episode allein nach heutigen Maßstäben zu be-
urteilen, doch warum problematisierte Berthold Viertel sie selbst in dieser
Weise ?37 Nochmals kommt eine Ambivalenz der modernen »Söhne« zum Aus-
34 BV, Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel,
DLA.
35 Salka Viertel an BV, 7. Februar 1933, 78.911/5, K45, A : Viertel, DLA. Eva Zilcher an BV, 4.Â
August
1951, 69.2874/1, K46, A : Viertel, DLA und BV an Maria Kramer, 13.Â
Juni 1951, Konvolut im Pri-
vatbesitz Eckart FrĂĽh.
36 BV, Wir waren Knaben, in : Schwarzes Buch »Record«, o.D., o.S., K05, A : Viertel, DLA.
37 Tony Judt über Arthur Koestler, in : Judt, 20. Jahrhundert, 2010, 42–52.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359