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ten Testaments erwiesen wurde.7 Und Goethe wurde gewissermaĂźen zum
»Gott« und zum einschlägigen Symbol dieser »Bildungsreligion«.
Wie sah es nun mit der Beherrschung der deutschen Sprache und in weiterer
Folge mit der Bildungsreligion bei den Viertels aus ? Daten aus Volkszählungen
belegen, dass um 1880 etwa zwei Drittel JĂĽdinnen und Juden in Galizien Pol-
nisch sprachen. Da aber Jiddisch als eigene Sprache nicht angegeben werden
konnte, spiegelten diese Daten nicht die Realität des jiddischen Sprachge-
brauchs wider.8 Anna und Salomon Viertel, die beide etwa seit ihrem 15. Le-
bensjahr in Wien lebten, sprachen in ihrer geschäftlichen Umgebung sicherlich
deutsch. Berthold Viertels Vater dĂĽrfte zu Hause gerne noch Jiddisch gespro-
chen haben, auch seine späten Briefe enthalten jiddische Formen.9 Briefe von
Anna Viertel existieren nicht (mehr ?).
Der ebenso hochgebildete wie hochakkulturierte Victor Adler schrieb 1903,
nach einer kurzen Begegnung mit Salomon Viertel : »[E]r ist ein […] ungebil-
deter, alter Jud«.10 Tatsächlich war die Familie Adler in Sachen Bildung und
(deutscher) Kultur den Viertels um eine Generation voraus und so konnte der
eigentlich zehn Jahre ältere, zum Protestantismus übergetretene Victor Adler in
Salomon Viertel einen ungebildeten, alten Juden – ähnlich seinem eigenen, im
Ghetto aufgewachsenen Vater Salomon Adler – sehen. So funktionierte die
»Hierarchie der Akkulturation«11. Obwohl politisch durchaus dem deutschen
Liberalismus verpflichtet, konnte Salomon Viertel mit der deutschen Kultur
wenig anfangen : »Meinen Vater […] langweilte es, still zu sitzen und einem
fremden Gedankengang zu folgen, da ihm ja doch nur durch die Rösselsprünge
seines eigenen, lebhaften […], aber unbelehrten und schwer belehrbaren Den-
kens unterbrochen […] wurden. Daher las er selten ein Buch zu Ende.«12
Es sollen überhaupt – und im Falle der Viertels war das zutreffend – eher die
MĂĽtter gewesen sein, die ihren Kindern Verehrung fĂĽr deutsche Hochkultur
»einimpften«.13 Mehrfach betonte Berthold Viertel den »Bildungsdrang« seiner
Mutter, ihre Liebe zu guten BĂĽchern und zu den im Burgtheater aufgefĂĽhrten
Klassikern.14 Er machte aber auch klar, dass Anna Viertel seine Begeisterung fĂĽr
7 Bauman, Moderne, 2005, 204–205.
8 Lichtblau, Integration, in : Brugger/Keil u.a. (Hg.), Geschichte der Juden, 2006, 447–566, 462–463.
9 Briefe Salomon Viertels an BV, 1931–1932, o.S., K20, A : Viertel, DLA und BV, Der Tod des Vaters
in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 198–199.
10 Victor Adler an Karl Adler, 2. August 1903, fol.15, K1, M1, T1, Teilnachlass Karl Adler, VGA.
11 Timms, Kraus, 2005, 108.
12 BV, Die sieben Jahre sind um, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 24.
13 Lichtblau (Hg.), Als hätten wir …, 2009,85–94, 86–89.
14 Vgl. u.a. BV, Die sieben Jahre sind um, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 24 ; BV,
Konvolut Autobiographie. Ă–sterreichische Illusionen (3 Hefte), o.D., o.S., K19, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359