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abfĂĽttern lassen. Man trieb sie an Sonntagen und Feiertagen um einen Trog zusam-
men, in den die Reste jener Bildung gerettet waren, die wir ausgespien hatten.28
»Tabula rasa« zu machen und eine neue Kultur im Sinne der anarchistischen,
nihilistischen, modernen Literatur zu schaffen, schien Viertel und dem jungen
Adler der einzige Ausweg aus der »vergreisenden« österreichischen Monarchie :
»Schon die Säulinge in den Kinderwägen sahen wie Greise aus, die keine Hoff-
nung kannten«29. Mit dieser Haltung trieben sich die beiden immer wieder in
Arbeiterheimen, etwa in Favoriten, herum und suchten Kontakt zu jungen Ar-
beiterInnen.
Victor Adler, der gegen solche »Entdeckungsreisen ins Proletariermilieu […]
ohne jede Erfahrung«30 war, wirkte auf die 16-Jährigen als »staatserhaltendes
Organ«, »allerdings von einer wirklichen staatsmännischen Begabung getra-
gen«31. Interessanterweise wurde damals die »internationale Klassensolidarität«
wirklich zu einer der zusammenhaltenden Kräfte im Vielvölkerstaat und damit
zu einer Stütze der Monarchie : »Neben der Habsburgerbürokratie und der Ar-
mee war die österreichische Sozialdemokratie eine der wenigen wirklich multi-
nationalen Einheiten in der Monarchie.« Victor Adler hatte das Ziel einer
proletarischen Weltrevolution in den Hintergrund gerĂĽckt, um die Habsburger-
monarchie langsam in einen modernen, demokratischen Völkerbund zu ver-
wandeln.32 Die internationalistischen Grundsätze der Partei mussten auch aus
realpolitischen GrĂĽnden kompatibel mit diversen Nationalismen des Habsbur-
gerreiches bleiben. Victor Adler vermied programmatische Festlegungen um die
»Internationale« und fand internationalen Sozialismus auch mit deutschem
Nationalismus durchaus vereinbar. Es sei fĂĽr die damalige Situation charakteris-
tisch gewesen, meinte Viertel, »dass spätere Bahnbrecher der Sozialdemokratie
[…] wie Dr. Victor Adler und [Engelbert] Pernerstorfer, ursprünglich der
deutschnationalen Opposition angehörten«33. Vor allem die Einführung des
28 BV, Paris, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 141.
29 Ibid.
30 Ardelt, Friedrich Adler, 1984, 69.
31 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA.
32 BV, Ă–sterreichische Illusionen/Der Knabe Robert FĂĽrth, o.D., o.S., NK12, A : Viertel, DLA ; Rabin-
bach, Politik und Bildung, in : Archiv. Jahrbuch des Vereins fĂĽr Geschichte der Arbeiterbewegung,
Wien 1998, 7–36, 15 ; Wistrich, Socialism, 1982, 299.
33 Mommsen, Sozialdemokratie und Nationalitätenfrage, in : Nautz/Vahrenkamp (Hg.), Wiener Jahr-
hundertwende, 1993, 747–758, 750. Mehr noch verkörperte Adlers Lebensfreund Pernerstorfer, der
für die Adler’schen Kinder eine wichtige Bezugsperson war, den deutschen Nationalismus in der
Sozialdemokratie. Vgl. BV, Erinnerungen an Karl Kraus, undatiert [August 1948 begonnen], 227,
K13, A : Viertel, DLA ; Wistrich, Socialism, 1982, 241,
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359