Page - 220 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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ihren einzigen Sohn nicht weniger gelitten hätten – auch wenn er selbst sie
nicht besonders sympathisch fand :
[I]ch habe Herrn Viertel kommen lassen mĂĽssen ; es war kein VergnĂĽgen, er ist ein
nervöser, ungebildeter, alter JudÂ
– aber auch alte Juden sind Menschen und wenn man
ihnen ins Fleisch schneidet, gibt’s Blut. Ich möchte also wissen, ob Herr Berthold
bereits so freundlich war, seine Eltern ĂĽber seinen Verbleib zu beruhigen ; der alte
Mensch hat mir leidgetan.63
Nachdem endlich auch Berthold Viertel seinen Eltern geschrieben hatte, ging
es darum, zu entscheiden, was nun mit den beiden »Räuber-Kumpanen« gesche-
hen sollte.64 Eilige Briefe gingen zwischen den Adlers hin und her, die alle
Möglichkeiten, rasch einen Mittelschulabschluss zu erwerben, und ihre rechtli-
che Anerkennung in Ă–sterreich erwogen.65 SchlieĂźlich einigten sie sich auf das
ein Jahr zuvor gegründete Zürcher Reformgymnasium des erst 23-jährigen
Rudolf Laemmel – selbst ein Wiener, der dem Militär zu entkommen suchte,
und ein Bekannter Friedrich Adlers. Es handelte sich um eine Schule »die […]
versprach, […] dank modernster Methoden und einer flexiblen Unterrichtsor-
ganisation unabhängig von Alter und Vorbildung optimal auf die […] schwei-
zerische, deutsche oder österreichische Maturitätsprüfung vorzubereiten«.
Frauen waren hier in der Überzahl und eine »Durchmischung von Privatleben
und Schule« trug dazu bei, dass das Unternehmen eher einer »studentischen
Lerngemeinschaft« als einer Schule glich.66
Berthold Viertel und Karl Adler wurden noch Anfang August bei Rudolf
Laemmel »stationiert«, der »Halbferien« in einer Sennhütte im schweizerischen
Altdorf verbrachte. Hier lernten die beiden Darstellende Geometrie und unter-
nahmen lange Wanderungen.67 Laemmels Unterricht war nicht billig – er ver-
langte vier Franken pro Stunde, wobei der Betrag unter höchstens vier Schülern
aufgeteilt werden konnte.68 Diese Kostenregelung war wahrscheinlich auch
63 Victor Adler an Karl Adler, 2. August 1903, fol. 11–12, K1, M21, T1, Teilnachlass Karl Adler, VGA.
64 Victor Adler an Friedrich Adler, 28. Juli 1903, M69, T1, Adler Archiv, VGA.
65 Karl Adler an Victor Adler, 3. August 1903, M76, T3 ; Friedrich Adler an Victor Adler, 12. und
27.Â
August 1903, M76, T4 ; Victor Adler an Friedrich Adler, 15.Â
August 1903, M71, T1, Adler Ar-
chiv, VGA.
66 Näf, Martin, »Die Wirkung ins Grösste ist uns versagt«Â
– Rudolf Laemmel 1879 bis 1962, Reform-
pädagoge, Erwachsenenbildner, Aufklärer. Versuch einer biographischen Rekonstruktion –http://
www.martinnaef.ch/downloads/rudolf_laemmel.htm (zuletzt : 25.11.2016).
67 BV, Aus einem im Schutzverband …, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956, 390,
u. Briefe Friedrich Adlers 1903, M76, VGA.
68 Friedrich Adler an Victor Adler, 12. August 1903, M76, T4, Adler Archiv, VGA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359