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Vaters sich aufrichten und unbeweglich werden. Und dannÂ
– ja, dann verließ der Vater
das Zimmer fliehenden Schrittes, und ohne sich umzusehen. Das Fenster blieb offen.15
Zwischen 1904 und 1906 – da war die Firma endgültig verloren – wurden nicht
nur Aufstiegshoffnungen, sondern auch der Konflikt mit dem Sohn durch die
»Erschütterung« der »sozialen Stellung« Salomons Viertels begraben. Berthold
Viertel nahm sich ab 1906 immer wieder vor, sich besser in seine Familie zu
integrieren :
Überhaupt wäre es praktisch, in der Familie tatkräftig zu wirken. Dadurch, dass man
sie meidet, wirkt man auf das Ungünstigste, als Fremdkörper, Friedensstörer, Beunru-
higer. Vater und Mutter sind abgebrauchte durch das Schicksal geschwächte Men-
schen. […] Das putzige Zutrauen dieser Menschen zu einander und dem Schicksal
gegenüber ist auf ewig erschüttert. Er hat seine harmlose Hausehre eingebüßt […].
Sie versteht es jetzt sehr feindlich gegen ihn zu wühlen. […]. Ein fortwährend nervö-
ses Zittern durchlauft den Familienkörper.16
Diese veränderten Umstände gaben Berthold Viertel allerdings die Möglichkeit,
sein Leben freier vom Aufstiegsdruck der Familie nach eigenen Vorstellungen
zu gestalten. Nach nur einem Semester Jus wechselte er an die philosophische
Fakultät, wohnte aber nach wie vor bei den Eltern, die Studium und Leben ihres
Sohnes weiterhin finanzierten. Auch der etwas ältere Stefan Zweig hatte Philo-
sophie als Studienfach gewählt, denn immerhin »war hier das rein stoffliche
Gebiet am eingeschränktesten, der Besuch von Vorlesungen oder Seminaren in
der »exakten« Philosophie am leichtesten zu umgehen. Alles, was not tat, war,
am Ende […] eine Dissertation einzureichen und einige Prüfungen zu machen.«
Zweig – für den die Universität einen »romantischen Nimbus« hatte und der
sich als Student bevorrechtet und beneidet fühlte – erinnerte sich an sein Stu-
dium als an eine »glückliche Zeit«, die er zum Lesen und Dichten genutzt habe
ohne die Universität, wo das »einfältige und brutale Treiben« der immer präsen-
ten Burschenschafter ihn abstieĂź, zu betreten.17
»Die Universität betrete ich nie«, schrieb auch Berthold Viertel im Frühjahr
1905.18 Obwohl sie im Gegensatz zum Gymnasium mehr Freiheit und Selbstän-
digkeit bot, »verachtete« er diese Institution, die »unsere Tatkraft weiter lähmen
15 BV, Die Stadt der Kindheit, in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 122–125.
16 BV, Tod der LĂĽge, 1. Tagebuchblatt am 5. Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel. DLA.
17 Zweig, Welt, 1992, 114–119.
18 BV an Hermann Wlach, o.D., H.I.N. 227.966, Sammlung BV, HS, WBR.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359