Page - 239 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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von Ritualen, Konventionen und auch Ausgrenzungsmechanismen beherrscht –
es war nicht zuletzt auch eine BĂĽhne der Selbstdarstellung. All das erfasste Al-
fred Polgar in seiner Theorie des Café Central, die er mit den Worten schloss : »Ihr
werdet nimmer solcher Örtlichkeit begegnen. […] Keiner verlässt sie, den sie
nicht gezeichnet hätte.«54 Viertel meinte, dass allein Polgar in seiner »scharf und
kaustisch formulierten Prosa« dem »genius loci« des Café Central nahegekom-
men sei.55 Nach seiner RĂĽckkehr aus dem Exil versuchte er selbst, in autobio-
grafischen Texten festzuhalten, was, aber vor allem wer die Atmosphäre des
Café Central ausgemacht hatte. Er wurde aber unweigerlich nostalgisch und
anekdotisch, wenn er über die Kellner im Central oder »spleenige Centralisten«
schrieb, die alle 1938, sehr bald nach der MachtĂĽbernahme der Nationalsozia-
listInnen in Österreich starben – es blieb bei Fragmenten und Andeutungen :
»Jedes Wiener Caféhaus war eine Insel, eine Welt für sich, ich konstatiere das
ohne Ironie.«56
Auch abseits des autobiografischen Projekts hinterlieĂźen die Jahre 1906 bis
1908 kaum Spuren in Viertels Nachlass – möglicherweise waren seine Tage mit
Vorlesungen, Treffen und Kaffeehausbesuchen ausgefĂĽllt. Hermann Wlach
schrieb er über die Sommer 1907 und 1908, die er – in eine »Oblomov-Lethar-
gie« verfallendÂ
– mit seiner Familie in der Hinterbrühl nahe Mödling verbrachte :
[1907] Hier ist es prachtvoll, aber zu berichten gibt es nichts. […] Ich komme nicht
nach Wien, sondern fröhne dem Sommer ganz allein, mit Büchern, hie und da auch
mit Mädchen […]. [1908] Mir – geht es gut, sitze wieder einmal – nun wo : in der
Hinterbrühl (ohne Verkehr !), lerne wieder einmal – wofür ? Fürs Doktorat. Habe
wiederÂ
– die besten Vorsätze. BerlinÂ
– aber mir fehlt es an Münze. Mit welchem Recht
bist Du eigentlich schon in Berlin ? Was ĂĽberhaupt kannst Du die ganze Zeit dort
getrieben haben ? Ich habe Unsinn getrieben, wie gewöhnlich, allerlei und vielfach
Unsinniges, so intensiver Natur, dass man keinen Brief daraus machen kann.57
1907 zog ein »Kunststudent« namens Adolf Hitler in der Stumpergasse 31/2/17
ein und lebte dort die nächsten beiden Jahre, nur etwa hundert Meter entfernt
von der damaligen Wohnung der Viertels. Während der junge Hitler eine Beru-
54 Polgar, Alfred, Theorie des Café Central, in : Heering, Kurt-Jürgen (Hg.), Das Wiener Kaffeehaus,
Frankfurt am Main 1993, 149–154, 154.
55 BV, Café Central [Heft I], o.D. [wahrscheinlich Dezember 1948], o.S., K19, A : Viertel, DLA.
56 Konzepte in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 292–297 ; BV an Stefan [Zweig ?],
23.Â
Oktober 1935, 78.888/9, K33, A : Viertel, DLA ; BV, Geburtstage. Skizze einer Epoche, in : Kai-
ser/Roessler (Hg.), Viertel, Überwindung, 1989, 193–194.
57 BV an Hermann Wlach, 8. August 1907 und 17. August 1908, H.I.N. 227998 bzw. H.I.N. 227999,
Sammlung BV, HS, WBR.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359