Page - 242 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Gerade in Viertels Militärjahr, 1908, erreichte die an sich hohe Selbstmord-
rate der k.u.k. Armee – übrigens die höchste in Europa – mit 21 Selbstmorden
einen Höhepunkt : Schikanen, Misshandlungen, Beschimpfungen, Strafen oder
Furcht vor Strafen, Schulden, materielle Not, Alkohol oder Nervenschwäche
(»Neurasthenie«) wurden als Suizidgründe ermittelt. Dabei sah sich das Heer
eigentlich als »Heilmittel« gegen jede Art von »Verweichlichung«.69 Ausschlag-
gebend mag aber in diesem Jahr die politische Krise um die Annexion von
Bosnien-Herzegowina gewesen sein, da die Spannungen sich durch Mobilisie-
rung und Demobilisierung in der Armee sicher auswirkten.
1909 bestand Viertel die Reserveoffiziersprüfung »entsprechend« und wurde
mit Abschluss seines Präsenzdienstes im Oktober 1909 Reservewachtmeister.
Da positive Beurteilungen in der österreichisch-ungarischen Armee eher infla-
tionär verwendet wurden, dürfte das »entsprechend« bedeuten, dass Berthold
Viertel sich nicht besonders hervorgetan hatte. Immerhin wurde nie etwas in
seinem Strafprotokollauszug vermerkt.70 Eine »kurze Charakteristik« beschrieb
den Reservekadetten Viertel 1910 als : »Gefestigte[n] Charakter, ruhig, ernst
jedoch leicht erregbar. Gute Geistesgaben und ebensolche Auffassung. Allge-
mein militärisch und im Traindienste gut ausgebildet. Resolut und führt gut.
Ambitioniert.« Auch wurde ihm ein »geeignetes Verständnis Untergebene zu
leiten und zu beurteilen« bescheinigt.71 Seine Beförderungen verliefen »in der
Rangtour« : Er wurde Anfang 1913 zum Fähnrich und Anfang 1914 zum Leut-
nant der Reserve ernannt. Im Herbst 1910 und im FrĂĽhsommer 1913 wurde
Viertel jeweils zu einer 28-tägigen Waffenübung in der Traindivision Nr. 14
eingezogen, wohin er versetzt worden war. Die WaffenĂĽbungen fanden in Linz
und Südtirol statt, denn zur Traindivision Nr. 14 gehörte auch das 5. Gebirgs-
traineskadron, dem Viertel angehörte und das zumindest als ein wenig heraus-
fordernder galt. Von der Linzer Waffenübung berichtete Viertel dem »verehrten
Herrn Kraus«, mit dem er da schon in engem Kontakt stand :
Jetzt waren seit dem Sonntag, da ich Sie besuchen wollte, aber wegen einer Nachmit-
tagsfütterung (der Pferde) die Station nicht verlassen konnte, Märsche, Einquartie-
rung in Bauernnestern, viel sinnlose Rackerei, ĂśbermĂĽdung und wenig Schlaf, keine
wirklich freie Minute. Montag geht es wieder fort, auf drei Tage Pionierübung. […]
Welch eine Satire ! […] Übrigens habe ich auch hier von Ihnen gehört. Auch hier
kultivieren die intelligenten und gebildeten Offiziere (kein hoher Prozentsatz) die
69 Leidinger, SelbstAuslöschung, 2012, 328–370.
70 Hauptgrundbuchblatt und Makularpare Berthold Viertel, Kriegsarchiv (in Folge : KA), ÖStA ; Deák,
Offizier, 1991, 34.
71 Ibid.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359