Page - 243 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Fackel. […] Nehmen Sie mir mein Abgestorbensein übel ? Sie waren nicht beim Mi-
litär. Erkundigen Sie sich bitte, wie das absperrt. […] Wieviel werden Sie inzwischen
schon wieder gearbeitet und ersiegt haben.72
Obwohl wahre Siege für Viertel also nicht auf militärischem Gebiet zu erringen
waren, beeinflusste ihn das Männlichkeitsideal des Kriegers durchaus. Unter
diesem Einfluss wurden ihm seine Freunde aus dem Kaffeehaus im medizini-
schen Jargon der Zeit zu »Neurasthenikern«. »Neurasthenie«, dem heutigen
»Burn-Out« ähnlich, war nach Viertel die »epidemische Massenerkrankung des
fin de siècle«73. Der Neurastheniker, der nervlich hochempfindliche, reizbare,
ängstliche, weinerliche, »weibliche« und oft intellektuelle Mann war das Kon-
trastbild zur militärischen Männlichkeit.74 Das Kaffeehaus, wo er sonst die
wahren »Väter und Lehrer« seines Lebens verortete, wurde Berthold Viertel in
diesem Kontext zum »Hauptfeinde der heutigen Jugend«, wie er um 1908 an
Hermann Wlach schrieb :
Ich habe vorige Woche das Central verlassen, endgĂĽltig verlassen. Womit nicht gesagt
sein soll, dass ich nicht jeden Tag eine, selbst 2 Stunden darin sitzen könnte, doch
nimmermehr wie einst. Ich bin jetzt zwei Jahre drinnen gesessen, und wahrlich ! […]
Ein Wrack floh ich aus diesem Café, ob aber ein Ausbessern noch möglich ist ? ? ? ? ? ?
Das Café ist ein bequemes gesellschaftliches Surrogat. Man kann dort neue Men-
schen kennen lernen, während man doch in ein Hauswesen nicht so leicht einzudrin-
gen vermag. Das ist der Köder für den Naivling, der eben noch keine Menschen kennt.
[…] Im Café gibt es keinen Geist, keine Laune, kein Wissen. Dort regiert einzig und
allein Majestät Spleen. Eine schreckliche Atmosphäre lastet auf der Lunge, ein fort-
währender Lärm belästigt die Nerven, und alle schwätzen sinnlos wie Kinder, mecha-
nisch wie Irre, und keiner kommt zu sich. Das Café tötet die Freundschaften und die
Feindschaften, ein demoralisierendes Nebeneinanderhocken, eine traurige Kamerad-
schaft im Schwachsinn. […] Das Café ist die Zuflucht der impotenten Lumpen. […]
Wenn ich bedenke, was ich alles nicht gelesen, gelernt, gedacht, gefĂĽhlt, gesehen, getan,
gelebt in diesen zwei Jahren des Café Central und des Café Ronacher (Pfui über
beide !) ! ! […] ich weine, jawohl ich weine, ich heule ! ! ! !75
Viertel verließ das Café Central – und die anderen rund 150 Wiener Kaffeehäu-
ser – erst 1914 mehr oder weniger endgültig, aber mit diesem empörten Brief
72 BV an Karl Kraus, 1. Oktober 1910, H.I.N. 166153, Teilnachlass Karl Kraus, HS, WBR.
73 BV, Rascher RĂĽckblick auf harmlose Zeiten, o.D., 303, K19, A : Viertel, DLA.
74 Hanisch, Männlichkeiten, 2005, 26 ; Leidinger, SelbstAuslöschung, 2012, 163.
75 BV an Hermann Wlach, o.D, H.I.N. 227978, Sammlung BV, HS, WBR.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359