Page - 249 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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xuelle Subversion«21 zusammen mit dem Schriftsteller Otto Soyka, einem »be-
redten Wortführer für die ›Perversionen‹« :22
Schon 1902 hatte Karl Kraus begonnen, sich mit Fragen von Sittlichkeit und
Kriminalität auseinanderzusetzen und für die Entkriminalisierung von Homo-
sexualität, Prostitution und anderer Formen außerehelicher Sexualität aufzutre-
ten.23 Otto Soyka – vier Jahre älter als Berthold Viertel – war in diesen Zusam-
menhängen ein wichtiger Mitarbeiter in Kraus’ Fackel und publizierte seit Jänner
1905 dort in »seinem Ressort Erotik und Sexualität«.
Medizinische HandbĂĽcher, Eheratgeber und Sittenkonvolute erlebten da-
mals einen ungeheuren Aufschwung und unterzogen sexuelle Praktiken, so sie
nicht »zielgerichtet« im Dienst der Fortpflanzung und damit »des rationell-
produktiven Zeitgeists« standen, zunehmend »pathologischen und kriminologi-
schen Etikettierungen«24. Dagegen fanden Kraus, Soyka und ihr Kreis, dass
Sexualität und Erotik Privatsache waren, es keine »Perversität« gäbe25 und sich
die Ă–ffentlichkeit nicht aburteilend und schon gar nicht strafrechtlich einzumi-
schen hatte – jeder [!] solle »im stillen Kämmerlein nach seiner Fasson selig
werden«26. In der Debatte um eine vom Strafrecht zu entkoppelnde außereheli-
che Sexualität, war vorerst die gleichgeschlechtliche Liebe eines der wichtigsten
Themen. Affären und Prozesse um Homosexuelle wie Oscar Wilde, Philipp
Graf von Eulenburg und später Oberst Alfred Redl waren Anlass, für die Ab-
schaffung der einschlägigen Gesetzesparagrafen einzutreten.27 Soykas erster
Aufsatz in der Fackel behandelte den homosexuellen Schriftsteller Oscar Wilde,
der 1900 – an den Folgen seiner Gefängnisstrafe wegen »Unzucht« – gestorben
war.28 Wilde ĂĽbte groĂźen Einfluss auf die AntibĂĽrgerlichkeit der kritischen
Wiener Modernen und ihre – definitionsgemäß männliche29 – Selbstwahrneh-
mung als Künstler aus : Es galt, sich selbst als Gegensatz zum »Philister« zu er-
schaffen, und eine »größere erotische Erlebnisfähigkeit« berechtigte dabei zu
mehr Freiheiten : Der Künstler war für Kraus »der volle Mann«, der auch die
21 Göttert, Margit, Macht und Eros. Frauenbewegung und weibliche Kultur um 1900 – eine neue
Perspektive auf Helene Lange und Gertrud Bäumer, Königstein/Taunus 2000, 11.
22 Timms, Dynamik der Kreise, 2013, 78.
23 Timms, Kraus, 1999, 101–112
24 Wagner, Geist und Geschlecht, 1982, 71–91.
25 Kraus, Die Fackel 237 (1907), 21.
26 Kraus, Karl : Sittlichkeit und Kriminalität, in : Kraus, Karl, Schriften, hrsg. von Christian Wagen-
knecht, Bd 1, Berlin 1987, 14.
27 Hanisch, Männlichkeiten, 2005, 265–271.
28 Soyka, Otto, Zum Falle Wilde (Eine Studie), in : Kraus, Die Fackel 173 (1905), 15–20.
29 Fraisl/Zettelbauer/Rabelhofer, Der weibliche Körper als Ort von Identitätskonstruktion in der Mo-
derne, in : Csáky u.a. (Hg.), Kultur, 2004, 255–281, 273.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359