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  Sexuelle 
Emancipation |  251
Er war mein lieber und größter Lehrer und nichts selbstverständlicher, als dass ich
mich ihm bedingungslos unterordnete. Er hat mein Streben erneut […]. Ich bin ihm
Dank schuldig wie keinem Zweiten. Abgesehen davon, dass ich ihn liebe. Aber ich
habe ihm auch geholfen. Seine Eitelkeit hatte im Falle A.[dlers] eine mächtige Ab-
fuhr erlitten. […] Er bedurfte damals eines schmeichelnden Spiegels. So kam ihm
meine Anbetung zu statten.Â
– Ich habe ihm auch fernerhin das Beste geboten, was ein
Schüler einem Lehrer geben kann : Verständnis. […] Es war ungerecht von ihm mir
in mein scherzhaftes ›Abgangszeugnis‹ – ›faul‹ hineinzuschreiben. Ich habe leiden-
schaftlich gearbeitet, als ich seinem Buche seinen Leser schuf, an mir. […] Ich
kämpfte mannhaft gegen alle Zweifel und verbohrte mich mit einer Energie in seine
Persönlichkeit, die nicht jedermann aufbringt.36
Das »Buch«, das 1905/06, offenbar in enger Kooperation, entstand, war Jenseits
der Sittlichkeits-Grenze. Ein Beitrag zur Kritik der Moral. Mit seinen 86Â Seiten
Umfang eigentlich eher ein Essay, erschien es 1906 im Akademischen Verlag
Wien und Leipzig als Otto Soykas DebĂĽt.37 Es ging Soyka und seinem unge-
nannt bleibenden Mitarbeiter darum, »Anschauungen, die durch gewaltige
Zeitepochen im Denken der kulturtragenden Menschheit vorherrschend sind«,
einer »freien Kritik« zu unterziehen :
In als »Perversionen« und »Abirrungen« abgeurteilten Erscheinungen wie
Sadismus, Masochismus, Sodomie, Fetischismus, Exhibitionismus und Homo-
sexualität äußere sich ebenfalls »die Kraft der Liebe, über deren Wesen nur
ungewisse Theorien möglich sind«. Insofern plädierte Soyka erstens für die
»gesellschaftliche Bekämpfung des Genitalien-Fetischismus«, zweitens für die
»Begünstigung der Homosexualität als des wichtigsten Faktors der erziehenden
Liebe« (auch für Frauen !), drittens für die »Achtung der masochistischen Idee«
auch durch seine Freundschaften mit Francesco Mendelssohn, Friedrich W. Murnau, Therese
Giehse etc. etwas Selbstverständliches gewesen sein sollte. Der englische Schriftsteller Chris-
topher Isherwood warf ihm allerdings gerade in diesem Zusammenhang mangelnde »sexuelle
Emancipation« vor : Viertel habe ihn als »very repressed sexually« kritisiert und Witze über Ho-
mosexuelle gemacht (Isherwood, Christopher and His Kind, Minnesota 2001, 157–158). Festzu-
halten ist dabei aber auch, dass Isherwood zu diesem Zeitpunkt schon im Gay-Rights Movement
engagiert war, also nochmals eine weitere Stufe in der öffentlichen Auseinandersetzung mit Ho-
mosexualität erreicht hatte (Parker, Isherwood, 2005). Wesentlich ist auch, dass Homosexualität
während Viertels gesamter Lebenszeit strafbar war und entsprechend vorsichtig darüber gespro-
chen werden musste.
36 BV, Konzepte in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 292–297, und BV, Tod der Lüge,
1.Â
Tagebuchblatt am 5.Â
Juli 1906, 69.3142/1, K28, A : Viertel, DLA.
37 Soyka, Otto, Jenseits der Sittlichkeits-Grenze. Ein Beitrag zur Kritik der Moral, Wien und Leipzig
1906, 10.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359