Page - 298 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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298 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
wirksam werden.32 Der Weg dorthin führte über Viertels Schulfreund Hermann
Wlach, der seit 1904 in Berlin und Hamburg als Schauspieler arbeitete. Viertel
war mit ihm durchgehend über Theaterfragen in Kontakt. Schon 1909 schrieb
er Wlach, dass es ihm »gefiele«, Wiener Premieren in deutschen Zeitschriften
zu besprechen. Vor allem lockte ihn die »Verbindung mit Berlin«, denn auch er
wollte möglichst bald ins wesentlich interessanter erscheinende Deutschland
kommen.33 Wlach gelang es aber vorerst nicht, Viertel zu einer Beschäftigung
in Deutschland zu verhelfen.
Als Kraus’ Mitarbeiter hatte sich Berthold Viertel um 1911 im kulturellen
Wien recht eindeutig positioniert, doch eine naheliegende Möglichkeit war, sich
im Umfeld von Kraus’ »Gegensatz« Alfred Polgar umzusehen.34 Polgar war seit
früher Jugend mit dem Journalisten und Autor Stefan Großmann befreundet
und die beiden hatten sich, ähnlich wie Karl Adler und Berthold Viertel, als
Jugendliche einem Anarchismus mit sozialistischer Tendenz, Peter Altenberg
und Knut Hamsun verschrieben.35 Karl Kraus respektierte Polgars unabhängige
Haltung, doch Stefan Großmanns wenig zielgerichtete und doch zielbewusste
Karriere reizte ihn ebenso wie dessen »Verstrickung in tausend Rücksichten und
Verbindlichkeiten«. In diesem Sinne wurde Großmann zu einer der wesentli-
chen satirischen Figuren der Fackel – Figuren, von deren Harmlosigkeit und
Banalität Viertel enttäuscht war, als er sie später kennenlernte.36
Großmann hatte um 1895 begonnen, sich der Sozialdemokratie zuzuwenden.
Victor Adler förderte ihn und er machte sich als Redakteur der Arbeiter-Zeitung
einen Namen. 1906 war Großmann als Journalist und Theaterautor bekannt und
in der Partei vernetzt genug, um zusammen mit seinem »alten Freund«, dem
Reichtagsabgeordneten Engelbert Pernerstorfer, eine »Freie Volksbühne« auch
in Wien initiieren und durchsetzen zu können. Großmann meinte, ähnlich wie
Viertel, dass im Grunde »nichts natürlicher« für ihn gewesen sei, als die Grün-
dung der Wiener Volksbühne : »Das Theater spukte seit den Kinderjahren in
meinem Kopf, und der sozialistische Gedanke hatte sich daneben angesiedelt.
Was war selbstverständlicher, als daß die beiden Tendenzen sich zu einer Aktion
vereinigten.«37
Für Kraus hingegen gehörte die »Versippung« von Theater und Presse und
gerade die Personalunion von Theaterautor, -kritiker und -leiter, wie Großmann
32 Timms, Dynamik der Kreise, 2013, 24–25.
33 BV an Hermann Wlach, o.D. [1909], H.I.N. 227.980, Sammlung BV, HS, WBR.
34 BV an Hermann Wlach, April 1911, H.I.N. 227983, Sammlung BV, HS, WBR.
35 Zucker, Großmann, 2007, 5–22 ; Großmann, Ich war begeistert, 1931.
36 BV, Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, in : Ginsberg (Hg.), Dichtungen und Dokumente, 1956,
218–219.
37 Großmann, Ich war begeistert, 1931, 171 ; Zucker, Großmann, 2007, 44–49.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359