Page - 301 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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Theater | 301
Solche Zwiespältigkeiten fielen Leuten aus dem Kraus-Kreis sicher auf. Im
Vergleich mit einem Vorläuferverein – dem 1901 begründeten, kompromisslose-
ren Akademischen Verein für Literatur und Kunst, der 1903/04 seine Tätigkeit
bereits wieder einstellte – gelang es der Volksbühne unter Großmann aber rela-
tiv gut, mit Privattheatern zu kooperieren und dabei anregende Inszenierungen
zu schaffen.
Im Dezember 1910 beschloss die Wiener Freie Volksbühne die Gründung
einer literarisch-künstlerischen Zeitschrift. Ihre Herausgeber waren Engelbert
Pernerstorfer, Stefan Großmann, und neuerdings Arthur Rundt, der als Jurist
(aber auch Schauspieler und Regisseur) gute Verbindungen zu Berliner Finanz-
kreisen hatte. Von seiner Einbindung als Geschäftsführer versprach sich die
Volksbühne 1911 ihre endgültige Etablierung in Wien in Form eines eigenen
Hauses mit eigenem Ensemble :
Einer hatte einen Wiener Volksbühnen-Verein, der Andere Berliner Kapitalisten an
der Hand. Der Eine – der damalige Sozialdemokrat Stefan Großmann – brachte or-
ganisiertes Publikum und […] den Volksbühnen-Gedanken, mit. Der Andere – Dr.
Arthur Rundt – machte ein modernes Projekt daraus. Man wollte das Nützliche mit
dem Angenehmen verbinden.50
Im Frühjahr 1911 wurde begonnen, nach möglichen MitarbeiterInnen für die
neue Zeitschrift Der Strom und das geplante neue Haus Ausschau zu halten. Die
erste Nummer des Strom erschien im April 1911 und versprach eine abwechs-
lungsreiche, aber zugleich durchkomponierte Zeitschrift zu werden, die Wert
auf das Erfassen des »Zeitstroms« legte.51 Bereits ab der zweiten Nummer war
Viertel Mitarbeiter des Strom und begann sich in Folge für die Volksbühne zu
interessieren. Im April schrieb er an Hermann Wlach : »Gestern war ich in der
Volksbühne, Elsa von St.[efan] Großmann inszeniert, eine teilweise lächerlich
dilettantische und doch im Wesentlichen sehr starke Vorstellung […]. Groß-
mann scheint wirklich etwas zu können ? ! In der nächstnächsten Saison hat er
sein eigenes Haus.«52
Zwar überlegte Viertel auch in diesem Frühjahr wieder »hin und her«, im
Herbst »endlich doch« nach Berlin zu gehen und fand Wien »scheußlich«, aber
er stellte auch fest : »Fühle mich aber aller Welt gegenüber unabhängiger als je,
auch bei mir selbst mehr zuhause als je.«53 In dieser neuen Unabhängigkeit –
50 BV, Volksbühne 1911, in : Heidenreich (Hg.), Berthold Viertel Schriften, 1970, 230.
51 Zucker, Großmann, 2007, 125 und 162 ; Grünwald, Wiener Freie Volksbühne, 1932,131–134.
52 BV an Hermann Wlach, April 1911, H.I.N. 227983, Sammlung BV, HS, WBR.
53 Ibid.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359