Page - 317 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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des offiziellen Krieges« erlebt : Gerade die Balkanländer waren 1914 unter den
dortigen Befehlshaber Erzherzog Friedrich und General Oskar Potiorek der
Hauptschauplatz österreichisch-ungarischer Kriegsverbrechen. Insgesamt wur-
den geschätzte 30.000 serbische EinwohnerInnen Bosniens und Syrmiens getö-
tet. In Nordserbien, wo Viertel stationiert war, wurden bereits in den allerersten
Kriegstagen in Šabac und Lešnica jeweils etwa 100 BürgerInnen – darunter
auch KinderÂ
– erschossen und in von ihnen vorher selbst ausgehobenen Massen-
gräbern verscharrt. Solche Massaker, massive Plünderungen oder das Nieder-
brennen ganzer Dörfer waren kein »Randphänomen«, sondern wurden von den
Vorgesetzten planmäßig vorbereitet. Aggressive Feindbilder (»Serbien muss
sterbien«), Spionagehysterie und die Suche nach Schuldigen nach den ersten
Rückschlägen beförderten diese Gewalttaten.36
Egon Erwin Kisch, der schon auf den ersten Seiten seines Kriegstagebuchs
mehrfach den überall sichtbaren Galgen erwähnte und auf Hinrichtungen von
ZivilistInnen hinwies, erwähnte die Massaker von Šabac und Lešnica nicht,
obwohl er durch diese Orte kam. Auch Berthold Viertel schrieb nie explizit ĂĽber
diese Kriegsverbrechen und es ist schwer zu sagen, ob hier Tabus oder Verdrän-
gung wirkten oder ob er selbst nichts davon wusste ?37 Eine Kurzgeschichte aus
dem englischen Exil belegt jedenfalls, dass er Hinrichtungen, auch von Frauen
und Kindern, wahrnahm :
The Austrian Army was resounding with stories about the terrors of the irregular,
guerilla warfare of the Serbs, and the evil deeds of the ›Komitatchis‹, townspeople and
peasants sniping from windows and from behind hedges. […] They had to be taught
a lesson […] : So they were shot without a trial and they had to dig their own graves.
The world has heard a great deal about these horrors. Of course, any peasant the Aus-
trians could put their hands on was, for one reason or another suspectable [!], […]
women as well as men, and children as well as women.38
In der folgenden Geschichte ging es eigentlich darum, dass jeder österreichisch-
ungarische Offizier eine winzige Glaskapsel Zyankali bei sich trug, um sich im
Falle einer Gefangennahme Folter und Kastration durch »die Serben« zu entzie-
hen. Er hätte aber bald erkannt, erklärte Viertel, dass »die Serben« nicht grau-
36 Holzer, Anton, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung 1914–
1918, Darmstadt 2014, 11–13 und 113–131 ; Hautmann, Hans, Die österreichisch-ungarische Ar-
mee auf dem Balkan, in : Seidler, Franz W. und Maurice de Zayas, Alfred (Hg.), Kriegsverbrechen
in Europa und im Nahen Osten im 20.Â
Jahrhundert, Hamburg 2002, 36–41 ; Rauchensteiner, Erster
Weltkrieg, 2013, 271–279 ; Schanes, Serbien, 2011, 166–177.
37 Holzer, Das Lächeln der Henker, 2014, 125–127 und 141–144.
38 BV, Cyanide, o.D., o.S., K17, A : Viertel, DLA.
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Ăśberblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RĂśCKKEHR IN DIE Ă–STERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches GefĂĽhl 118
- Galizien 129
- JĂĽdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- MitschĂĽler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359