Page - 324 - in Berthold Viertel - Eine Biografie der Wiener Moderne
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324 | Erinnerungsorte
der
Wiener
Moderne
berührte Viertel aber auch und gab sogar zu, sich »einmal« beteiligt zu haben –
zwar nicht an Vergewaltigungen, aber an der allgegenwärtigen Kinderprostitu-
tion :65 »Die kleinen Mädchen unter und über 14, die mit so herrlicher Frechheit
auf allen Straßen Offiziere fischten und dann auf namenlos dreckigen Betten
ihre süße Unreife boten. Ich habe [es] nur einmal versucht […].«66 Berthold
Viertel sah diese Mädchen als »Opfer des Krieges«, für die österreichische Offi-
ziere unmenschliche »gutgenährte Raubtiere« waren :
Man konnte mit uns einen bösen Handel abschließen, das schon, aber es war Ehren-
sache, uns zu übertölpeln, […]. Ein Mann war von Natur ein Feind, gar ein österrei-
chischer Offizier ! Wir, die wir ihre Väter brutalisierten […]. – Sie kannten unsere
Rohheit und unsere Grausamkeit, und doch waren sie hier, um –.67
Im Falle eines sehr jungen »jüdischen Engels« mit »blauen, milden Augen« habe
er sogar (vergeblich) versucht, sie davon abzuhalten, weiter »auf den Strich« zu
gehen : »Mein jüdisches Gefühl war so tief verletzt.«68 Dieses »jüdische Gefühl«,
das Buber erweckt hatte, beinhaltete Überlegenheitsgefühle und einen erziehe-
rischen Impetus dem zivilisatorisch auf niedrigerem Niveau stehenden »Osten«
gegenüber, an dessen »Material« noch dringend gearbeitet werden musste.69
Auch bei Viertel wird diese Haltung, zusammen mit einem gewissen Abscheu
vor mangelnder Hygiene, deutlich. Er beobachtete etwa in der Kleinstadt Halicz
»schauerhafte Juden, Nachtvögel am Tage : Schmutz, Schmutz und bunte Bäue-
rinnen ; schreckliche halbstädtische Verlumptheit.«70 Immer wieder verglich
Viertel die orthodoxen »schwarzen« Jüdinnen und Juden, denen er begegnete,
mit flatternden, kreischenden »Raben«. Daneben standen Bewunderung für die
»feierlich gefassten chassidischen Juden«, für die »Geduld und Ergebenheit, mit
der sie Mißachtung und Bedrängnis hinnahmen«, für ihre »tiefe Weisheit« und
ihren »melancholischen Humor« und auch Schwärmerei für die »weite, traurige
Schönheit des Landes«71. So bewundert und verachtet blieben die galizischen
Jüdinnen und Juden »Fremde« und zwiespältige Stereotypen :72
65 Dornik, Torn Apart Between Time and Space ?, in : Bischof u.a. (Hg.), Austrian Lives, 2012, 280–
303, 298.
66 BV, [Halicz 1915], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 175.
67 BV, Kriegstagebuch [blaues Heft], o.D., o.S., K18, A : Viertel, DLA.
68 Ibid.
69 Sieg, Jüdische Intellektuelle, 2001, 195–217 ; Leidinger/Moritz, Der Erste Weltkrieg, 2011, 50.
70 BV, [Halicz 1915], in : Bolbecher/Kaiser (Hg.), Viertel, Cherub, 1990, 176.
71 BV, Der Olymp, o.D., o.S., K10, A : Viertel, DLA ; Viertel, Das unbelehrbare Herz, 1970, 133–134.
72 Das Gefühl dieser Entfremdung blieb in Viertels Texten erkennbar, wenn er das »ursprünglichere
Judentum« nicht recht mit seinem »Jüdischen Wien« in Verbindung bringen konnte – bei »Assi-
Berthold Viertel
Eine Biografie der Wiener Moderne
- Title
- Berthold Viertel
- Subtitle
- Eine Biografie der Wiener Moderne
- Author
- Katharina Prager
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20832-7
- Size
- 15.5 x 23.2 cm
- Pages
- 368
- Category
- Biographien
Table of contents
- Ein chronologischer Überblick 7
- Einleitend 19
- 1. BERTHOLD VIERTELS RÜCKKEHR IN DIE ÖSTERREICHISCHE MODERNE DURCH EXIL UND REMIGRATION
- 2. ERINNERUNGSORTE DER WIENER MODERNE
- Moderne in Wien 99
- Monarchisches Gefühl 118
- Galizien 129
- Jüdisches Wien 139
- Katholische Dienstmädchen 150
- Deutsche Kultur 161
- Luegers Wien 173
- Mitschüler Hitler 184
- Jugendliche Kulturanarchisten 196
- Familie Adler 209
- Studium 228
- Sexuelle Emancipation 245
- Karl Kraus 268
- Theater 291
- Erster Weltkrieg 310
- Nachsatz 333
- Archivalien 336
- Dank 342
- Literaturverzeichnis 344
- Bildnachweis 358
- Personenregister 359