Page - 11 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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harmonische Disposition der Natur hier in die Lebenshaltung einer ganzen
Nation übergegangen ist. Erst wie etwas Unglaubwürdiges und dann als
unendliche Wohltat begrüßt einen, der eben der wahnwitzigen Überreiztheit
Europas entflüchtet ist, die totale Abwesenheit jedweder Gehässigkeit im
öffentlichen wie im privaten Leben. Jene fürchterliche Spannung, die nun
schon seit einem Jahrzehnt an unseren Nerven zerrt, ist hier fast völlig
ausgeschaltet; alle Gegensätze, selbst jene im Sozialen, haben hier
bedeutend weniger Schärfe und vor allem keine vergiftete Spitze. Hier ist
noch nicht die Politik mit all ihren Perfiditäten Angelpunkt des privaten
Lebens, nicht Mittelpunkt alles Denkens und Fühlens. Es ist die erste und
dann täglich glücklich erneute Überraschung, kaum man dieses Land betritt,
in wie freundlicher und unfanatischer Form die Menschen innerhalb dieses
riesigen Raums miteinander leben. Unwillkürlich atmet man auf, der Stickluft
des Rassen- und Klassenhasses entkommen zu sein in dieser stilleren,
humaneren Atmosphäre. Zweifellos, es ist hier mehr Lässigkeit in der
Lebensführung. Die Menschen entwickeln unter dem unmerklich
erschlaffenden Einfluß des Klimas weniger Stoßkraft, weniger Vehemenz,
weniger Dynamik, also gerade die Eigenschaften, die man heutzutage in
tragischer Überschätzung als die moralischen Werte eines Volkes anpreist;
aber wir, die wir die fürchterlichen Folgen dieser psychischen
Überspannungen, dieser Gier und Machtwut am eigenen Schicksal erfahren,
genießen diese lindere und gelassenere Form des Lebens als eine Wohltat und
ein Glück. Nichts liegt mir ferner als vortäuschen zu wollen, daß alles in
Brasilien sich heute schon im Idealzustand befinde. Vieles ist erst im
Anbeginn und Übergang. Noch liegt die Lebenshaltung eines Großteils der
Bevölkerung weit unter der unseren. Noch sind die technischen, die
industriellen Leistungen dieses Fünfzig-Millionen-Volks nur etwa mit denen
eines europäischen Kleinstaats zu vergleichen. Noch ist die
Verwaltungsmaschinerie nicht ganz eingespielt und zeitigt oft ärgerliche
Stockungen. Noch reist man mit ein paar hundert Meilen ins Innere
gleichzeitig ins Primitive um ein Jahrhundert zurück. Wer neu in das Land
kommt, wird sich im täglichen Leben an kleine Unpünktlichkeiten und
Unzuverlässigkeiten, an eine gewisse Laxheit erst anpassen müssen, und
gewisse Reisende, die nur vom Hotel und vom Auto aus die Welt sehen,
können sich noch den Luxus leisten, mit dem hochmütigen Gefühl
zivilisatorischer Überlegenheit zurückzureisen und vieles in Brasilien
rückständig oder unzulänglich zu finden. Aber die Ereignisse der letzten Jahre
haben unsere Meinung über den Wert der Worte »Zivilisation« und »Kultur«
wesentlich geändert. Wir sind nicht mehr willens, sie kurzerhand dem Begriff
»Organisation« und »Komfort« gleichzustellen. Nichts hat diesen
verhängnisvollen Irrtum mehr gefördert als die Statistik, die als mechanische
Wissenschaft berechnet, wieviel in einem Lande das Volksvermögen beträgt,
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Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197