Page - 23 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Image of the Page - 23 -
Text of the Page - 23 -
bestimmten Willen, also ein durchaus noch geistiges, noch nicht ins Irdische
ganz eingemengtes Element. Und sie kommen zur besten Stunde, denn für
ihre großartige Konzeption, durch geistige Kriegerschaft die religiöse Einheit
der Welt wiederherzustellen, bedeutet die Entdeckung der neuen Erdteile
einen unerhörten Gewinn. Seit 1519 der wilde Deutsche auf dem Reichstag
von Worms den religiösen Weltkrieg entfachte, ist Europa schon zu einem
Drittel und beinahe zur Hälfte von der Kirche abgefallen und der
Katholizismus, einstmals dieecclesia universalis, eher in die
Verteidigungsstellung gedrängt. Welcher Vorteil darum, wenn man die neuen
Welten, die sich plötzlich aufgetan haben, rechtzeitig für den alten, den
wahren Glauben erobern und damit gleichsam eine zweite und breitere Front
hinter der ersten schaffen könnte! Da die Jesuiten nichts fordern, keine
Besoldung, keine Bevorzugung, billigt der König João ihre Absicht, dies neue
Land für den Glauben zu gewinnen und gestattet sechs dieser »Soldaten
Christi«, die Expedition zu begleiten. Aber in Wirklichkeit werden diese
Sechs nicht die Begleiter, sondern die Führer sein.
Mit diesen sechs Männern beginnt etwas Neues für Brasilien. Alle vor
ihnen waren entweder auf Befehl oder aus Zwang oder auf der Flucht
gekommen; wen bislang ein Schiff absetzte an diesem Strand, der wollte
etwas aus diesem Lande herausholen, Holz oder Früchte oder Vögel oder
Erze oder Menschen; keiner hatte daran gedacht, dem Lande etwas als
Gegengabe zu bringen. Die Jesuiten, das sind die ersten, die nichts für sich
und alles für das Land wollen. Sie führen Pflanzen und Tiere mit sich, um die
Erde zu befruchten, sie bringen Medizinen, um die Menschen zu heilen,
Bücher und Instrumente, um die Ungebildeten zu belehren, sie bringen ihren
Glauben und die von ihrem Lehrer disziplinierte sittliche Zucht, sie bringen
vor allem eine neue Idee, die größte kolonisatorische Idee der Geschichte. Vor
ihnen bei den barbarischen Völkern und neben ihnen unter dem spanischen
Regime bedeutet Kolonisieren entweder die Eingeborenen ausrotten oder zu
Tieren machen; Entdeckung ist sonst für die Konquistadorenmoral des
sechzehnten Jahrhunderts identisch mit Eroberung, Unterordnung,
Unterjochung, Entrechtung, Versklavung. Sie dagegen als os únicos homens
disciplinados do seu tempo, wie sie Euclides da Cunha nannte, denken über
diesen Raubbauprozeß hinaus an den Aufbauprozeß, an die nächsten
Generationen und antizipieren vom ersten Augenblick im neuen Lande die
moralische Gleichsetzung aller mit allen. Gerade weil die Urbevölkerung im
Tiefstand lebt, soll sie nicht noch tiefer zu Tierheit und Sklaverei
herabgedrückt werden, sondern zum Menschen erhoben und auf dem Wege
über das Christentum zur abendländischen Zivilisation geführt werden: eine
neue Nation soll hier durch Mischung und Erziehung entwickelt werden.
Dieser schöpferischen Idee dankt es im letzten Brasilien, daß es aus einem
23
back to the
book Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Title
- Brasilien
- Subtitle
- Ein Land der Zukunft
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1941
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 200
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197